Diakonie kritisiert Entlastungsmaßnahmen der Regierung

"Die Gießkanne hilft immer nicht auf Dauer"

9-Euro-Ticket und Tankrabatt gehen nach Ansicht von Armutsexperten an den eigentlichen Problemen vorbei. Ärmeren Menschen werde durch solche "Sommer-Schnäppchen" nicht geholfen, kritisiert Michael David von der Diakonie Deutschland.

Diakonie: 9-Euro-Ticket und Tankrabatt helfen nicht nachhaltig / © Tero Vesalainen (shutterstock)
Diakonie: 9-Euro-Ticket und Tankrabatt helfen nicht nachhaltig / © Tero Vesalainen ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Wie bewerten Sie es, dass die Bundesregierung dieses 9-Euro-Ticket einführen lässt? 

Michael David (Armutsexperte bei der Diakonie Deutschland): Es ist ein netter Testballon und eine kleine Werbemaßnahme für den ÖPNV. Aber es ist natürlich wenig zielgenau. 

DOMRADIO.DE: Da gucken wir jetzt noch mal im Detail. Eine finanzielle Entlastung ist es ganz sicher, aber wie nachhaltig ist die Entlastung, wenn die Ticketpreise nach drei Monaten wieder in die Höhe schnellen?

Michael David, Armutsexperte bei der Diakonie Deutschland

"Da ist langfristig was zu tun. Und da hilft jetzt nicht nur ein Sommer-Schnäppchen weiter."

David: Wir haben ja große Probleme im öffentlichen Personennahverkehr. Die Sätze, die zum Beispiel im Hartz-IV-Regelsatz für Mobilität vorgesehen sind, entsprechen oft nicht einmal den Kosten für ein Sozialticket in den Regionalverbünden. Natürlich freuen sich die Leute jetzt, wenn sie mal drei Monate damit fahren können.

Ansonsten wissen wir aber auch, dass die Zahl derjenigen, die wegen Ersatzfreiheitsstrafe in Gefängnissen sitzen, zu einem relativ großen Teil Schwarzfahrerinnen und Schwarzfahrer sind, die sich die Tickets einfach nicht leisten konnten. Und das zeigt: Da ist langfristig etwas zu tun. Und da hilft jetzt nicht nur ein Sommer-Schnäppchen weiter. 

Diakonie Deutschland

Die Diakonie ist der soziale Dienst der evangelischen Kirchen. Sie versteht ihren Auftrag als gelebte Nächstenliebe und setzt sich für Menschen ein, die am Rande der Gesellschaft stehen, die auf Hilfe angewiesen oder benachteiligt sind. Neben dieser Hilfe versteht sie sich als Anwältin der Schwachen und benennt öffentlich die Ursachen von sozialer Not gegenüber Politik und Gesellschaft. Diese Aufgabe nimmt sie gemeinsam mit anderen Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege wahr.

Diakonie (Symbolbild) / © Tobias Arhelger (shutterstock)
Diakonie (Symbolbild) / © Tobias Arhelger ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Neben dem 9-Euro-Ticket kommt ja auch der Tank-Rabatt. Ist das jetzt für einkommensschwache Familien ein Grund zur Freude? 

David: Wenn eine einkommensschwache Familie sich ein Auto leisten kann, dann könnte sie sich darüber freuen. Aber der Begriff "einkommensschwach" und "Auto" steht schon in einem Widerspruch. Wir haben das Problem, dass auf dem Land, wo die Leute weite Strecken zurücklegen müssen, gerade Leute, die wenig Geld haben, Riesenprobleme haben. Und da ist es nicht damit getan, jetzt für die Tankfüllung zu sorgen.

Denn diejenigen, die sich gar kein Auto leisten konnten, die brauchen andere Mobilitätsangebote. Die brauchen auch auf dem Land einen vernünftigen Personennahverkehr. Die brauchen Plätze, wo Leute Carsharing miteinander organisieren. Die brauchen vielfältige Angebote, kleinere Busse, die übers Land fahren, die Leute einsammeln, Ruftaxis, die auch wirklich funktionieren. Das sind einfach Sachen, wo man langfristig ran muss. Und da ist es natürlich jetzt auch wiederum nett für manche Leute, mit der Gießkanne zu agieren. Aber die Gießkanne hilft immer nicht auf Dauer. 

DOMRADIO.DE: Und die Gießkanne hilft dann in diesem Fall vielleicht wirklich eher den einkommensstärkeren Haushalten. Die profitieren vielleicht wirklich. Wie schätzen Sie das ein? Wie wirken sich jetzt diese beiden Maßnahmen – 9-Euro-Ticket und Tankrabatt – auf die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland aus?

David: Ich würde sagen, dass sie mindestens nicht dazu beitragen, diese Kluft zu verringern, weil sie ja – wie gesagt – einfach eine Gießkannen-Maßnahme sind. Das, was ärmere Leute davon haben, haben auch Leute, die mehr Geld haben. Das Problem bei den Leuten, die ärmer sind, ist, dass sie damit ja nicht planen können.

Wenn ich mehr Geld habe, kann ich Rücklagen bilden oder bin vielleicht ins Minus gegangen, kann das jetzt ausgleichen. Wenn ich überhaupt nichts habe, um hin und herzuschieben, kann ich das nicht tun. Insofern geht das an diesen Leuten ziemlich vorbei. Die bräuchten wirklich gezielte Hilfen. Und wir beobachten einfach, dass die Hilfen, die gezielt an Ärmere gehen, viel, viel geringer und kleiner sind als die, die jetzt mit der Gießkanne verteilt werden. 

DOMRADIO.DE: Sie sagen, die Leute brauchen gezielte Hilfen. Machen wir das mal konkret: Was könnte das sein? 

Michael David, Armutsexperte bei der Diakonie Deutschland

"nicht immer nur dieses Gewurschtel von einer Krise bis zur nächsten"

David: Wir wissen ja jetzt zum Beispiel, dass momentan die Inflation schon bei über 7 Prozent liegt. Das tut nicht allen gleichmäßig weh. Das tut vor allem denjenigen weh, die jeden Tag das Geld, was sie überhaupt bekommen, ausgeben müssen für Waren des täglichen Bedarfs. Das tut denjenigen weh, die in schlecht isolierten Wohnungen sitzen, weil sie sich andere nicht leisten können und einen sehr hohen Energie- und Gasverbrauch haben.

Das tut den Leuten weh, die alte Durchlauferhitzer haben, die auf Strombasis funktionieren und da einfach Unsummen für bezahlen. Das sind die Riesenprobleme, vor denen wir jetzt stehen und da brauchen wir einfach Hilfen, die da direkt wirken. Das Problem ist, wenn ich das noch grundsätzlich sagen darf, es ist bei jeder Krise – das hatten wir auch schon bei Corona so –, dass immer von einem Moment zum nächsten überlegt wird: "Was können wir denn jetzt bitte mal tun."

Was wir nicht haben, ist ein Krisenmechanismus mit Sozialgesetzen, wo wir feststellen können: Es ist eine Notlage da und automatisch wird jetzt etwas angewendet. Wir schlagen vor, sechs Monate lang jeweils 100 € für alle, die am Existenzminimum leben. Das sollte der Bundestag mit einfacher Mehrheit feststellen können und nicht immer nur dieses Gewurschtel von einer Krise bis zur nächsten veranstalten. 

Das Interview führte Hilde Regeniter.

Quelle:
DR