26. April 1986. Zwei Explosionen zerstören einen der vier Reaktorblöcke des Atomkraftwerks von Tschernobyl. Radioaktives Material wird in die Atmosphäre geschleudert und verseucht weite Teile der Ukraine, Russlands und von Belarus. Die "Wolke" zieht bis nach Mitteleuropa und zum Nordkap. Es ist der bis dahin größte Unfall in der Geschichte der Kernenergie - mit Folgen für die Menschen in den betroffenen Regionen bis heute.
Den katholischen Würzburger Religionspädagogen Wolfgang Fleckenstein hat das dramatische Ereignis 35 Jahre später zu einer ungewöhnlichen Aktion inspiriert. In 60 Stunden schrieb sich der emeritierte Theologieprofessor seine Visionen, seinen Glauben und seine Hoffnungen von der Seele, auf einer Ikone mit dem Titel "Christus tröstet die Kinder von Tschernobyl".
Kultgegenstände als Ikonen
Ikonen heißen die traditionellen Heiligendarstellungen in der Ostkirche. Der Begriff kommt aus dem Griechischen und meint wörtlich Bild oder Abbild. Ikonen werden aber geschrieben, nicht gemalt, denn es handelt sich nicht um dekorative Kunstwerke, sondern Kultgegenstände, die geweiht und verehrt werden. Der Schreiber tritt dabei ganz hinter sein Werk zurück.
"Die Antwort auf die reale Katastrophe ist Christus", sagt Fleckenstein. Für diejenigen, die sich Christus verpflichtet wissen, sei die Gefährdung der Schöpfung Gottes durch Menschenwerk und ihre Bewahrung eine Herausforderung - "die Grundproblematik, die mit dieser Ikone angeschaut ist", ergänzt er. Fleckenstein hat das Motiv nicht selbst erfunden, sondern sich an einer Vorlage von Angela Heuser orientiert.
Jesus als Tröster
Im Vordergrund zeigt die Ikone den in österliches Weiß gekleideten Auferstandenen inmitten von fünf Kindern. Eines sitzt zu seinen Füßen, ein weiteres auf seinem Schoß. Ein Mädchen hat seinen Arm in der Schlinge, man sieht ein Pflaster, einen kahlen Schädel. Zweifellos haben die Kinder Schaden genommen.
Zu ihnen gesellen sich fünf Tiere: eine Schildkröte, ein Hund, eine Katze, ein Lamm. In der hohlen Hand eines Jungen liegt ein toter Vogel. Zur geschundenen Schöpfung gehörten "auch außermenschliche Wesen", erläutert Fleckenstein.
Hoffnungen für den Menschen
Das Bildnis weist über die bekannte Ikonen-Tradition hinaus, weil es drastisch auf ein aktuelles Unglück Bezug nimmt. Im Hintergrund rechts oben ist das havarierte AKW dargestellt, tiefe Risse durchziehen einen Kühlturm. Sträucher sind verkohlt, ein schwarz-braunes Baumgerippe reckt seine Äste gen Himmel - wie flehentlich betende Hände. Der Himmel glüht gelb-rot, durchzogen von dunklen Rauchschwaden: ein Inferno.
Doch das Auge des Betrachters fällt zunächst auf Jesus Christus, auf dessen Stirn sich Sorgenfalten abzeichnen. Zugleich strahlt er Ruhe aus, sucht Kontakt mit den Kindern, spendet Trost: "Christus, der göttliche Tröster, macht deutlich, dass Gott nicht das Leid oder die Krankheit oder die Katastrophe will, seine Absicht ist die Fülle des Lebens", erklärt der Ikonenschreiber und fügt hinzu: "Solange Menschenkinder auf dieser Erde geboren werden, hat Gott seine Hoffnung auf den Menschen noch nicht aufgegeben."
Tschernobyl-Ikone kommt ins Fernsehen
In Auftrag gegeben hat die "Tschernobyl-Ikone" Helmut Hof von der Katholischen Erwachsenenbildung in Forchheim. Für ihn ist das Werk ein Brückenschlag zwischen Ost und West. Einer, der die Umweltenzyklika "Laudato si" von Papst Franziskus auf berührende Weise umsetzt. Zu Fleckenstein gibt es schon seit Jahren eine Verbindung. Der Theologe leitet seit 2013 für die Forchheimer Erwachsenenbildung Kurse in der Katholischen Landvolkshochschule Feuerstein zur Anfertigung von Ikonen.
Hof gehört außerdem zum Vorbereitungsteam der Pfingstaktion des katholischen Osteuropahilfswerks Renovabis, die 2021 schwerpunktmäßig im Erzbistum Bamberg begangen wird. Sie steht unter dem Leitwort: "Du erneuerst das Angesicht der Erde - Ost und West in gemeinsamer Verantwortung für die Schöpfung". Im Eröffnungsgottesdienst am 9. Mai, übertragen vom ZDF, wird auch Fleckensteins Ikone eine Rolle spielen. Danach soll sie in der Kapelle auf dem Feuerstein eine dauerhafte Heimat finden.