"Wie kommt ein zehnjähriges Kind von der Slowakei in ein deutsches Konzentrationslager?" Yvonne Koch kann das aus eigenem Erleben erzählen und ist mit ihrer Frage gleich mittendrin. Die heute 87-jährige Mikrobiologin wurde im November 1944 nach Bergen-Belsen verschleppt - in einem Viehwaggon eingepfercht mit 60 Menschen und doch ohne Angehörige, ganz allein. 76 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers berichtet sie in einem Gemeindehaus im nahe gelegenen Bergen Jugendlichen aus ihrem Leben.
Gedenken mit Überlebenden im Netz
Wenn am 15. April der 76. Jahrestag der Befreiung des Lagers begangen wird, geht das aufgrund der Corona-Pandemie im zweiten Jahr in Folge nur in einer nichtöffentlichen Zeremonie. Die Gedenkstätte Bergen-Belsen plant deshalb ein Programm im Internet. Dafür hat sie unter anderem Yvonne Koch und elf weitere Überlebende aus Kanada, Großbritannien, Israel und der Schweiz mit Jugendlichen ins Gespräch gebracht, zuallermeist in Online-Runden. "Die Jugendlichen sollen ihre Eindrücke später in dreiminütigen Videos festhalten, die wir ins Internet stellen", erläutert Till Amelung von der Gedenkstätte.
"Zivilcourage"
Dass Yvonne Koch mit Ehemann Herbert aus Düsseldorf nach Bergen gekommen ist, hat neben der vergleichsweise kurzen Anfahrt und einer bereits vollständigen Coronaimpfung der beiden noch andere Gründe. Auch wenn sie in den vergangenen Jahren häufig vor Schulklassen gesprochen habe, falle ihr das immer noch schwer, sagt die 87-Jährige. Es erfordere, wie der frühere Bundespräsident Joachim Gauck ihr einmal geschrieben habe, viel "Zivilcourage". Denn mit dem Erzählen rückten auch die Erinnerungen nahe. "Alles, was ich Ihnen jetzt sage, ist so, als ob es heute passiert wäre."
Jugendlich hören Zeitzeugen zu
Jetzt sitzen Esther Laaser (17), Marlon Studtmann (15), Carolin Tutas (15) und Wiebke van Dijk (17) den Kochs im großen Saal zwar pandemiegerecht getestet und weit verteilt, aber doch persönlich gegenüber. Das eigene Leben mit Fremden zu teilen, sei etwas ganz Besonderes, sagt Esther: "Es gehört ja Ihnen." Sie berichtet, was sie und die anderen vorhaben. In einem Projekt mit der evangelischen Diakonin Sonja Winterhoff erneuern sie einen "Weg der Erinnerung". Er führt von der Bahnrampe, an der die Häftlingstransporte ankamen, zum Lager Bergen-Belsen. Die Jugendlichen wollen die Geschichte anschaulich und dafür per QR-Code Audio-Dateien abrufbar machen. Darin wollen sie von Yvonne Koch erzählen.
44 verschleppt
Die Tochter eines Arztes in einem slowakischen Dorf erlebte, wie die Ausgrenzung begann und wo sie endete. Der Vater, ein Atheist mit jüdischen Wurzeln, musste seine Stelle aufgeben und durfte nur noch unter Aufsicht arbeiten. Yvonne besuchte eine katholische Klosterschule und lebte dort im Internat, ihre Mutter war überzeugte Katholikin. 1944 behandelte ihr Vater zwei Flüchtlinge. Das wurde verraten, und er musste in die Illegalität flüchten. Soldaten bedrängten daraufhin das Mädchen, seinen Aufenthaltsort zu nennen. Den kannte sie gar nicht und wurde verschleppt.
Solidarität in der Not
Als Yvonne Koch von Bergen-Belsen erzählt, hören die Jugendlichen schweigend zu. Sie berichtet von quälenden Zählappellen in der Kälte, von Aufseherinnen, die Schäferhunde auf diejenigen hetzten, die nicht mehr strammstehen konnten. Und sie erzählt, wie sie Kartoffelschalen stahl und erwärmte, um nicht zu verhungern. "Es war wie im Urwald. Der Stärkere überlebt", sagt Koch. "Ich war in dieser Kette die Schwächste." Nur eine Frau erbarmte sich und schenkte ihr von Zeit zu Zeit etwas zu essen und ein Paar Handschuhe.
Knapp dem Tod entronnen
In Bergen-Belsen starben mehr als 52.000 KZ-Häftlinge und rund 20.000 Kriegsgefangene. Die britischen Truppen fanden bei der Befreiung Tausende unbestattete Leichen und Zehntausende todkranke Menschen vor. Die elfjährige Yvonne lag bereits im Koma, als die Retter kamen. Lange Jahre hat sie niemandem von ihren Erlebnissen erzählt. Auch ihren Eltern nicht, die sie nach ihrer Befreiung wiedersah. Der Sport half der Leistungs-Schwimmerin dabei, im Leben wieder Fuß zu fassen. Als Mikrobiologin erwarb sie sich später internationale Anerkennung und gründete eine Familie. "Aber meinen Rucksack habe ich immer mit mir getragen."
Wachsam bleiben
Wie sie heute Menschen begegne, die den Holocaust leugnen, will Wiebke van Dijk wissen. "Wenn du zu viel Wert legst auf solche Leute, finden sie sich zu wichtig", entgegnet Koch. Zugleich mahnt sie: Wer in der Demokratie schlafe, bereite der Diktatur den Boden. Es seien junge Menschen die ihr Mut machten. "Mein Vermächtnis ist, dass ich alles tue, damit junge Menschen etwas dazu beitragen, dass die Demokratie bleibt."