DOMRADIO.DE: Dass Mädchen und Jungen im Jemen äußerst gefährlich leben, beweisen die aktuellen Opferzahlen.
Susanna Krüger (Vorstandsvorsitzende von "Save the children"): Das ist richtig. Das zeigen auch unsere aktuellen Datenanalysen. Es ist wirklich so, dass ein Viertel der zivilen Opfer, Tote und Verletzte, im Jemen Kinder sind. Und seit 2018 ist dieser Anteil der Kinder an den zivilen Opfern von Kampfhandlungen von einem Fünftel auf ein Viertel gestiegen.
Wir wissen schon seit sechs Jahren, dass es ziemlich schlimm ist. Und die UNO sagt auch schon seit 2017, dass der Jemenkrieg die größte humanitäre Krise der Welt ist. Trotzdem werden die Hilfen zurückgefahren,
DOMRADIO.DE: Wie groß ist denn das Hungerproblem im Land?
Krüger: Ich war 2018 selbst im Jemen und habe dort schon gesehen, was es bedeutet, wenn Kinder und ihre Familien nicht genug zu essen haben. Es bedeutet, sie sterben. Es bedeutet, sie haben keinen Zugang zu medizinischer Behandlung.
Wenn man sich mal die Einwohnerzahl im Jemen vergegenwärtigt, sind das 29 Millionen Menschen. Und wenn zwei Drittel dieser Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen ist, dann haben wir eine Ernährungssituation - und wir wissen das aus den Daten, dass wir 2,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren haben, die akut mangelernährt sind. Das ist lebensbedrohlich.
Bis Mitte des Jahres werden wir das noch schlimmer erleben, weil einerseits die Hilfen zurückgefahren werden. Aber wir werden auch erleben, dass über 16 Millionen Leute, also 54 Prozent der Bevölkerung, nach unseren Daten unter Lebensmittelknappheit leiden werden.
DOMRADIO.DE: Wie sieht denn der Alltag jemenitischer Kinder im Krieg dort aus?
Krüger: Wir haben eine große Präsenz mit sehr vielen jemenitischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor Ort. Die erzählen uns, dass die Kinder im Jemen seit sechs Jahren einen Albtraum erleben: jeden Tag Gewalt, jeden Tag Tod. Sie gehen hungrig ins Bett. Sie verpassen den Unterricht. Wir wissen, dass zwei Millionen Kinder im Moment nicht zur Schule gehen können. Und sie werden gezielt auch angegriffen.
Wir sehen das gerade am Beispiel Taizz. Das ist eine umkämpfte Stadt im Südwesten. Dort wird ganz gezielt auf Kinder geschossen, um Terror zu verbreiten. Wir haben gerade in den letzten Tagen eines dieser Kinder aus Taizz interviewt, mit ihm gesprochen. Das war der achtjährige Omar, der bei einem Granatangriff verletzt worden und dessen Bruder bei diesem Angriff gestorben ist.
Unsere Teams vor Ort unterstützen ihn zum Beispiel, bezahlen seine medizinische Behandlung. So etwas ist, was wir tun. Und deswegen kriegen wir natürlich sehr gut mit, wie der ganz konkrete Alltag von Kindern in so einem Krieg aussieht.
DOMRADIO.DE: Aber woran liegt es denn, dass die UNO das Geld für die Menschen im Jemen kaum zusammenbekommt?
Krüger: Das ist eine sehr komplexe Gemengelage. Es ist natürlich aus einer Position wie der unseren sehr schwer nachzuvollziehen, aber wir haben auch eine weltweite Pandemie. Und offenbar haben Regierungen auch andere Prioritäten.
Dann gibt es auch innenpolitische Ursachen. Zum Beispiel gibt es ganz drastische Kürzungen durch Großbritannien. Das ist einer der größten Geber. Die haben aus innenpolitischen Gründen ihre Jemen-Hilfe um mehr als die Hälfte zurückgefahren. Ministerpräsident Johnson begründet das mit der Finanzierung des Kampfs gegen Covid-19.
Deutschland ist ein sehr wichtiger Geber für humanitäre Hilfe in Jemen. Wir haben 200 Millionen in etwa beibehalten, aber keine Steigerung. Möglicherweise - das ist meine persönliche Meinung, seit ich 2018 dort war - haben wir es auch damit zu tun, dass das Problem sehr weit weg zu sein scheint. Denn wir sehen ja auch keine jemenitischen Flüchtlinge in Europa. Und so fehlt auch der Bezug.
DOMRADIO.DE: Was sind Ihre Forderungen an die internationale Gemeinschaft?
Krüger: Wir fordern einen Stopp von Rüstungsexporten an die Konfliktparteien. Wir fordern vor allem die Bundesregierung dazu auf, ihren Einfluss auf andere Geber zu nutzen, um mehr Geld für den Jemen bereitzustellen.
Aber wir als "Save the Children" glauben, dass die Kinder des Jemen gar nicht warten können. Die leiden da jetzt schon so lange. Deswegen können sie nicht warten, bis die Konfliktparteien und die internationalen Akteure sich zu einem echten Frieden aufraffen. Darauf warten wir einfach schon viel zu lange.
Sie können nicht warten, bis internationale Geber die nötigen Milliarden zur Verfügung gestellt haben. Die brauchen jetzt Hilfe. Und das fordern wir. Deswegen glauben wir auch an privates Engagement. Privatspender sind jetzt zur Stelle und das ist das, was wir fordern. Und wir wollen ihnen damit eine Stimme geben.
Das Interview führte Dagmar Peters.