Stuttgarter Stadtdekan sieht Aufbruch in Politik und Kirche

"Die Dinge kommen ans Licht"

Am Sonntag starten Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz mit Landtagswahlen. Im Vorfeld begrüßt der Stuttgarter Stadtdekan die zunehmende Aufklärungsarbeit in der Politik, aber auch in der Kirche. Ein Gespräch über notwendige Aufbrüche.

An die Zukunft denken (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Die Corona-Pandemie liegt wie ein Damoklesschwert über den Politikern, die für ihre Entscheidungen gerade einstehen müssen. Sie wollen die katholische Kirche in Stuttgart zukunftsfähig machen. Gilt das auch für die Politik?

Msgr. Christian Hermes (Stuttgarter Stadtdekan): Das gilt, glaube ich, wirklich für alle Bereiche. Wir haben dieses Projekt 2011 gestartet und da war klar: Wir brauchen eine Erneuerung - inhaltlich, strukturell, finanziell. Zwischenzeitlich war dann immer die Frage "wann ist das Projekt eigentlich zu Ende? Wann sind wir fertig mit Aufbrechen". 

Ich glaube, es zeichnet unsere Zeit aus - und zwar in der Politik, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, auch in der Kirche - dass der Aufbruch der Dauerzustand sein muss. Der Wandel ist das Beständige und das macht ganz schön viel Mühe.

DOMRADIO.DE: Welche Herausforderungen liegen da über Kirche und Politik, gerade in dieser Corona-Pandemie?

Hermes: Wir Menschen sind natürlich wahnsinnig verunsichert, viele auch ängstlich. Wir haben Gott sei Dank in unserer Gesellschaft einen offenen Diskurs. Es wird darüber gesprochen, wer sind die verletzlichen Gruppen, wer braucht Unterstützung. Es wird noch zu wenig getan, auch für die Kinder, Jugendlichen, auch für die Alten und Menschen mit Behinderung, auch insgesamt für uns als Gesellschaft.

Die Frage ist: Wie wollen wir denn sein? Was heißt denn ein gerechter fairer Umgang, was die Impfreihenfolge, die Coronahilfen angeht? Da ärgern sich viele, die sagen "mein Laden geht kaputt und große Unternehmen kriegen eine Unterstützung". Eine ganz aktuelle Forschung sagt, dass fast die Hälfte der Deutschen findet, dass ihr Gehalt ungerecht sei. Diese Gerechtigkeitsfragen, die bewegen uns. Und das heißt, man muss immer im Gespräch sein darüber, was ein guter Weg ist.

DOMRADIO.DE: Wir haben natürlich alle große Erwartungen an Politikerinnen und Politiker, genauso wie an Kirchenvertreter. Welche Rolle spielt Glaubwürdigkeit?

Hermes: Das spielt eine essentielle Rolle. Das ist sozusagen eine der Voraussetzung, von der die Demokratie lebt, die man aber nicht einfach mit einem Fingerschnipsen, einer Verwaltungsanordnung oder einem Gesetz herbeiführen kann und auch nicht für Geld kaufen kann. Das Vertrauen ist eine persönliche Glaubwürdigkeit von Personen. Man muss auch sagen, da wird oftmals viel zu viel erwartet.

Ich habe den Eindruck, es werden auch Erwartungen medial befeuert und hochgeschraubt. Politiker sind keine Wunderheiler, Politiker sind auch keine Heiligen. Wer denkt denn sowas? Sondern das sind Menschen, die sich fürs Gemeinwohl hoffentlich engagieren. Und da gibt's ja nun mal auch schwarze Schafe drunter, das ist ganz klar. Das ist so wie in der Gesamtbevölkerung auch.

Aber ich glaube, dass Vertrauen trotzdem immer wieder zu erwerben und so weit, dass Menschen einem abnehmen können, dass man es gut meint - dass man ein anständiger Kerl, eine anständige Frau ist, dass man sich wirklich für die Gemeinschaft einsetzt - das ist das Kapital, auf das die Politik angewiesen ist und die Kirche ja sowieso. Die Kirche hat davon viel zerstört.

DOMRADIO.DE: Politiker sind keine Heiligen. Eines haben wir in den letzten Jahren spätestens gelernt: So sieht es auch bei Kirchenvertretern, bei Würdenträgern, aus. Gibt es da in der Politik und der Kirche ein gemeinsames Problem von Autoritätsverlust? 

Hermes: Was wir jetzt sehen ist, dass die Dinge ans Licht kommen - glücklicherweise durch eine kritische demokratische Presse, die manche konservative Kräfte in der Kirche und manche in der Politik nicht schätzene, Niemand ist gerne Gegenstand einer Skandalisierung. Aber die Dinge kommen ans Licht und das ist eigentlich auch eine ganz zutiefst Evangeliums-gemäße Sache. Jesus sagt: Alles, was verborgen ist, kommt ans Licht - es ist auch das Evangelium von morgen - das Licht richtet.

Wenn da Licht reinkommt, dann sieht man, was los ist. Und dann wird auch Gericht gehalten, was da passiert ist. Es ist extrem wichtig, dass die "Dunkelmänner" und "Dunkelfrauen", die es in unserer Gesellschaft gibt - ob in Kirche, in Verbänden, in der Politik - wissen, sie können nicht im Schutz der Dunkelheit ihren Taten und Untaten nachgehen, sondern da gibt's eine kritische Aufmerksamkeit. Gott sei Dank, sage ich.

DOMRADIO.DE: Also Ihr Slogan hätte auch heißen können "Licht anmachen".

Hermes: Unbedingt. Früher war eben weniger Licht. Und so sehr wir uns vielleicht auch über den Sensationalismus und Sensationsjournalismus heute aufregen: Es ist eben so, dass nun viele hinschauen und sagen "was passiert da, welche Gelder fließen da, wer tut was?"

Und auch in der Kirche - das haben wir hoffentlich in der Mehrzahl gelernt: Nur die Wahrheit wird uns freimachen, um es mit einem Wort aus dem Evangelium zu sagen. Und jeder, der versucht zu vertuschen oder Aufklärung zu verhindern, wird überhaupt keine Chance in dieser Kirche haben.

Die Frage ist eben, was an Schäden alles noch angerichtet wird. Ich habe auch Bekannte in Köln im kirchlichen Bereich und sehe, wie katastrophal die Stimmung da ist. Jetzt muss man die Chance geben aufzuklären. Aber wenn das nicht wirklich in der größten Korrektheit und Glaubwürdigkeit abläuft, dann haben wir einen wahnsinnigen Schaden.

DOMRADIO.DE: In Baden-Württemberg wird jetzt gewählt. Was würden Sie sich denn von den Wählenden wünschen, die jetzt auch Entscheidungen treffen müssen?

Hermes: Erst einmal wünsche ich mir natürlich von den Wählenden, dass sie überhaupt wählen und dass wir eine gute Wahlbeteiligung bekommen. Das macht mich ehrlich gesagt immer völlig fertig, wenn ich eine so niedrige Wahlbeteiligung sehe. Wollen die Leute denn nicht in einer Demokratie leben? Es ist doch ein Privileg, das wir haben, wählen zu können. Wenn wir nach Myanmar oder nach China schauen, was ist das für ein Riesenprivileg, das wir haben! Also wählen gehen ist das erste. Zweitens: sich informieren. Es gibt inzwischen den Wahl-O-Mat. Das ist ganz gut.

Man kann sich informieren. Vielleicht nicht nur die Schlagzeilen lesen, sondern auch das, was danach kommt. Und dann muss eben jeder schauen. Nicht wer erfüllt zu 100 Prozent meine Erwartungen, sondern wer erfüllt weitestgehend das - insbesondere die Werte, die dahinter stehen - was ich von der Politik erwarte.


Christian Hermes / © privat (privat)
Christian Hermes / © privat ( privat )
Quelle:
DR
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