Das "System Auschwitz" verstehen

"Die Fahrten in das KZ haben mein Leben total verändert"

2006 reist Roland Vossebrecker das erste Mal nach Auschwitz-Birkenau. Das Thema lässt ihn nicht mehr los. Mittlerweile lädt der Musiker regelmäßig zu Führungen durch das Lager ein. Es ist sein Beitrag gegen das Vergessen und zu einem Lernprozess.

Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau / © Rolf E. Staerk (shutterstock)
Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau / © Rolf E. Staerk ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Herr Vossebrecker, seit ein paar Jahren organisieren Sie ehrenamtlich Fahrten in das polnische Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Mehrmals im Jahr sind Sie dafür in Polen. Wie kam es dazu?

Roland Vossebrecker (Komponist, Pianist und ehrenamtlicher Mitarbeiter des Bildungswerkes Stanislaw Hantz): Nachdem ich mich jahrzehntelang vor einer Auseinandersetzung mit diesem Thema gedrückt hatte, habe ich mich dem Holocaust zunächst über die Literatur genähert und sehr viele Bücher dazu gelesen. Die Lektüre über diesen Teil deutscher Geschichte hat mich schließlich gefesselt. Und gleichzeitig habe ich erfahren, wie wichtig, einzigartig und katastrophal dieses Thema ist. Eines Tages war dann klar: Ich muss selbst einmal dorthin fahren. Das war vor 14 Jahren.

Zunächst habe ich mich damals vier Stunden im Stammlager von Auschwitz aufgehalten, dann weitere vier Stunden in dem drei Kilometer entfernten und viel größeren Konzentrations- und Vernichtungslager Birkenau – auch Auschwitz II genannt. Und trotz dieser intensiven Erfahrung habe ich gemerkt, dass das immer noch viel zu kurz war. Also bin ich später noch ein paar Mal dort gewesen – auch mit meiner Frau und Freunden. Darüber hinaus habe ich 2007 an einer Reise des Bildungswerkes Stanislaw Hantz zu den Vernichtungslagern der sogenannten "Aktion Reinhard" – Belzec, Sobibor und Treblinka – teilgenommen. Diese Fahrt hat mich tief bewegt, nicht zuletzt, weil ich dort auch in Kontakt mit einem Zeitzeugen kam.

Daraufhin habe ich mich noch eingehender mit diesen Orten beschäftigt und versucht, den Ursachen für diese grauenhaften Verbrechen am jüdischen Volk auf den Grund zu gehen. Seit 2010 bin ich Mitglied im Bildungswerk Hantz, das – nach einem Auschwitz-Überlebenden benannt – Studienreisen zu ehemaligen Vernichtungsstätten organisiert und gestaltet. Inzwischen war ich 27 Mal in Auschwitz und arbeite jetzt auch selbst als Reisebegleiter und Referent für diese Bildungseinrichtung. Außerdem begleite ich auch Schülerfahrten und Lehrerfortbildungen nach Auschwitz.

DOMRADIO.DE: Können Sie diesen Ort, an dem etwa eine Million Juden den Tod gefunden haben – genaue Zahlen gibt es nicht – beschreiben?

Vossebrecker: Wer in Oswiecim – der polnische Name für Auschwitz – ankommt, besucht gewöhnlich als erstes das 1940 errichtete Konzentrationslager, das sogenannte Stammlager mit seinen 28 zweistöckigen Wohn-Baracken, den Wachtürmen, dem Appellplatz und dem bekannten Tor mit der Aufschrift "Arbeit macht frei". Trotzdem ist das Stammlager heute aber vor allem ein Museum mit mehr als zwei Millionen Besuchern pro Jahr, was bedeutet, dass es dort eigentlich immer voll ist und diese Menschenmengen würdiges Gedenken erschweren. Der Standardbesucher nimmt wahr, was das Museum bietet. Dabei war Auschwitz noch sehr viel mehr als nur das Areal innerhalb des Lagerzaunes.

Bei unseren Reisen versuchen wir, einen tieferen Einblick in das "System Auschwitz", wie ich die gesamte Tötungsmaschinerie der Nazis immer nenne, zu vermitteln. Den bekommt man erst, wenn man zum Beispiel auch die Nebenlager im ehemaligen SS-Interessengebiet besucht, die heute als "vergessene Orte" bezeichnet werden können. Wer das System Auschwitz verstehen will, muss auch die ganze Infrastruktur erfassen, die dem Alltagsleben der Täter diente. Da war zum Beispiel das Haus Nr. 7, das sich außerhalb, aber in unmittelbarer Nähe des Lagers befand. Es wurde eigens dazu eingerichtet, dass die SS-Leute hier ihre Freundinnen oder Frauen und Kinder empfangen konnten, ohne das Lagergelände zu betreten. Die diesbezüglichen Befehle des Kommandanten Rudolf Höss zeigen, wie selbstverständlich es für die SS-Männer war, den Frauen ihren "Arbeitsplatz" zu zeigen. Auschwitz war ein öffentlicher Ort.

DOMRADIO.DE: Was heißt das genau?

Vossebrecker: Nach Auschwitz wurden beispielsweise regelmäßig internationale Künstler eingeladen, um die SS kulturell zu unterhalten. Allein das zeigt schon, dass viele gewusst haben müssen, was hier in Wahrheit geschah. Es ist eine Illusion zu glauben, davon habe niemand etwas bemerkt. Und das ist ganz wichtig für unsere Wahrnehmung von Auschwitz, weil es das Bild des Systems, von dem ich vorhin sprach, vervollständigt. Erst wenn man sich mit allen Facetten vertraut macht, versteht man, wie die Täter funktioniert haben. Denn das muss man wissen: Die Täter von Auschwitz waren keine geheime, abgesonderte Verbrecher-Kaste, sondern sie bewegten sich in einem sozialen, kulturellen und auch familiären Umfeld, das ihnen erlaubte, ihr Tun als normal einzusortieren. Sie waren gesellschaftlich akzeptiert.

Daher konnten sie auch Denkweisen herausbilden wie: "Alle anderen handeln ja auch so" oder: "Wenn ich es nicht mache, macht es ein anderer". Das heißt, die SS-Leute wussten genau, was sie da taten. Ein Zitat des SS-Mannes Oskar Gröning belegt das sehr eindeutig. Er sagt: "Auschwitz – das war Jubel, Trubel, Heiterkeit. Wie eine Kleinstadt." Oder Oswald Kaduk, Rapportführer in Auschwitz, stellte die Frage: "Wer wird das einmal verantworten, was wir hier machen?" Solche Aussagen lassen durchaus darauf schließen, dass die meisten Täter ein Unrechtsbewusstsein hatten und sehr wohl wussten, dass sie das Falsche taten.

DOMRADIO.DE: Auschwitz und Birkenau werden oft in einem Atemzug genannt, dabei sind es zwei verschiedene Standorte, auch wenn sie nur wenige Kilometer voneinander entfernt liegen…

Vossebrecker: Trotzdem ist die Atmosphäre in Birkenau völlig anders. Dort kann man auch ganz alleine über das riesige Gelände gehen und Momente der Stille erleben, wenn man die üblichen Routen der Besucherströme meidet. Der Tourismus verliert sich hier. Und auch damals gab es zunächst Unterschiede zwischen den beiden Lagern – allein schon in ihrer Konzeption und Bestimmung. Im Vergleich zu Auschwitz I ist das Gelände von Birkenau mit seinen heute 171 Hektar von enormem Ausmaß. In Spitzenzeiten waren hier bis zu 100.000 Häftlinge untergebracht. Und ab 1942 bekam es dann auch die zusätzliche Funktion eines Vernichtungslagers: einer Mordfabrik.

Auschwitz dagegen war zunächst ein Konzentrationslager für polnische politische Häftlinge, in dem man gegen den politischen Gegner mit Folter und Gewalt unter unvorstellbar schrecklichen Lebensbedingungen vorging. Etwas mehr als 400.000 Häftlinge wurden im Konzentrationslagerkomplex Auschwitz-Birkenau mit einer tätowierten Nummer offiziell registriert. Es wurden aber sehr viel mehr Menschen nach Auschwitz deportiert und unmittelbar nach ihrer Ankunft, ohne registriert zu werden, ermordet. Viele haben das Konzentrationslager – trotz der großen Brutalität, der sie hier begegneten – überlebt. Das Vernichtungslager Birkenau aber hat niemand überlebt. Wie viele Menschen in den Gaskammern umgekommen sind, kann bis heute nur annähernd geschätzt werden.

DOMRADIO.DE: Eigentlich hört sich "Kammer" nach einem überschaubaren Raum und auch relativ verharmlosend an. Dabei muss es für den millionenfachen Mord an den Juden ja auch eine technische Strategie gegeben haben…

Vossebrecker: Als Auschwitz auch die Funktion eines Vernichtungslagers übernahm, mussten in der Tat entsprechende Anlagen erst errichtet werden. Da gab es zunächst zwei etwas abgelegenere Bauernhäuser – genannt das rote und das weiße Haus – die 1942 zunächst als Gaskammern dienten. 1943 wurden dann in Birkenau vier regelrechte Mordfabriken gebaut: riesige Krematorien mit zum Teil unterirdischen Gaskammern. Und ja, diese Gaskammern waren alles andere als klein. Etwa 2000 Menschen konnten darin auf einmal vergast werden.

DOMRADIO.DE: Woher weiß man denn solche Einzelheiten? Bevor die Truppen der Roten Armee am 27. Januar Auschwitz befreiten, sprengten die Nazis diese Anlagen doch. Es blieben letztlich nur Ruinen übrig…

Vossebrecker: Diese Ruinen der Krematorien sind heute die eindrucksvollsten Relikte. Die wichtigsten Quellen waren aber die Zeitzeugen; Menschen, die Auschwitz überlebt hatten. Vor allem die wenigen Überlebenden des Sonderkommandos, die gezwungen waren, in den Krematorien zu arbeiten. Sie mussten die Toten aus den Gaskammern zerren, ihnen die Goldzähne herausbrechen, die Haare abschneiden und die Leichen im Anschluss in den Krematoriumsöfen oder auf offenen Scheiterhaufen verbrennen. Es gab also Menschen, die diese Morde tagtäglich mit ansehen mussten.

DOMRADIO.DE: Warum hat Sie Auschwitz nie wieder losgelassen? Was verbinden Sie 75 Jahre nach der Befreiung dieses KZ mit diesem Ort, den Sie so viele Male schon aufgesucht haben?

Vossebrecker: In Auschwitz gehören intellektuelles und emotionales Verstehen zusammen. Ich wehre mich dagegen, wenn Reisen an diesen Ort als "Selbsterfahrungstrip" missbraucht werden. Was mich bewegt, ist, im Tiefsten verstehen zu wollen: Wie war es möglich, dass das System Auschwitz funktionieren konnte? Was haben die Menschen damals erleiden müssen?

Und vor allem: Was hat die Täter in die Lage versetzt, diese furchtbaren Verbrechen zu begehen? Auf welche Art und Weise haben sie das vor sich selbst gerechtfertigt? Hier setzt für mich der entscheidende Lernprozess ein. Denn ein Gedenken ohne die Perspektive auf Gegenwart und Zukunft ist im Grunde sinnlos. Wenn ich sehe, wie die Täter ihr falsches Verhalten vor sich selbst legitimiert haben, die Tatsachen verdreht und sich etwas zurechtgelogen haben, ist mir das eine große Warnung.

Da dürfen wir heute nicht denselben Fehler machen. Verdrängung und Rechtfertigung können mörderisch sein: Wir alle wissen doch, dass wir zum Beispiel im Hinblick auf das Klima mit unserem Lebensstil sehr viel falsch machen, unser Verhalten aber dennoch rechtfertigen und die Wahrheit über die verhängnisvollen Auswirkungen verdrängen. Das ist also ganz leicht. Die Auschwitz-Täter haben uns geradezu exemplarisch vorgeführt, wie gut wir Menschen diese Mechanismen des Legitimierens und Verdrängens von Verantwortung und Schuld beherrschen.

DOMRADIO.DE: Zum diesjährigen Jahrestag haben sich besonders viele Besucher in Auschwitz angemeldet. Aber Sie bieten auch Bildungsreisen nach Kulmhof nähe Lodz, wo sich in den 1940er Jahren das zweitgrößte jüdische Ghetto befand,  nach Belzec, Sobibor und Treblinka in Ostpolen oder auch nach Lemberg in der Ukraine sowie nach Vilnius und Kaunas in Litauen an. Was sind das für Menschen, die solche Fahrten unternehmen?

Vossebrecker: Die Teilnehmer kommen aus allen Generationen. Sie eint ihr Interesse und die Bereitschaft, sich auf diesen Teil unserer deutschen Geschichte und damit auf ein gleichermaßen schwieriges wie schweres Thema einzulassen. Es ist die besondere Leistung des Bildungswerkes Hantz, dass es das Gedenken an die Verbrechen auch an Orten wach hält, die im Schatten von Auschwitz stehen.

Bei meiner Bildungsreise nach Lodz zum ehemaligen Ghetto Litzmannstadt habe ich Leon Weintraub dabei, einen Zeitzeugen, der vier Jahre seiner Jugend im Ghetto verbracht hat. Später wurde er nach Auschwitz und in weitere Lager deportiert. Er kann von einem unfassbaren Schicksal erzählen. Solche Begegnungen empfinde ich als eine unglaubliche Bereicherung. Ganz abgesehen davon, dass Menschen wie Leon Weintraub für unsere Gedenkkultur unverzichtbar sind.

DOMRADIO.DE: Auschwitz – dieser Name steht für ein einziges Grauen und unermessliche Unmenschlichkeit, die kaum in Worte zu fassen ist. Trotzdem, heißt es, wüssten über 40 Prozent der deutschen Schüler nicht, was sich in Auschwitz-Birkenau ereignet hat. Die Hälfte der Deutschen meint zudem, Juden redeten zuviel über den Holocaust. Lässt sich angesichts solcher Zahlen überhaupt noch vermitteln, warum dieser Ort für die nachwachsenden Generationen so wichtig ist?

Vossebrecker: Als ich mit meiner Arbeit begonnen habe, war das für mich zunächst nur die Beschäftigung mit einem historischen Thema. In den letzten Jahren aber hat es dann angesichts der weltweiten Ausbreitung von Nationalegoismen, wie ich das nenne, eine neue brennende Aktualität bekommen. Mein Leben haben die Fahrten nach Auschwitz, Lodz, Kulmhof und zu anderen Vernichtungsorten total verändert – und ja, auch bereichert. Meine Aufgabe ist dort, Zugang, Verständnis und Wissen zu vermitteln, also Lernprozesse in Gang zu setzen. Dabei gilt: Man muss erst über Auschwitz lernen, bevor man aus Auschwitz lernen kann. Ich selber habe dort unglaublich viel gelernt. Es hat mich sensibler gemacht im Umgang mit Ungerechtigkeit, Not und Elend.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.


Roland Vossebrecker engagiert sich ehrenamtlich für Bildungsreisen nach Auschwitz / © Beatrice Tomasetti (DR)
Roland Vossebrecker engagiert sich ehrenamtlich für Bildungsreisen nach Auschwitz / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Die Ruine von Krematorium II in Birkenau / © Roland Vossebrecker (privat)
Die Ruine von Krematorium II in Birkenau / © Roland Vossebrecker ( privat )

Blick in das Innere einer Baracke im "Quarantänelager" von Birkenau / © Roland Vossebrecker (privat)
Blick in das Innere einer Baracke im "Quarantänelager" von Birkenau / © Roland Vossebrecker ( privat )

Hof zwischen Block 10 und Block 11 im Stammlager Auschwitz mit der "Schwarzen Wand", an der zahlreiche Opfer erschossen wurden / © Roland Vossebrecker (privat)
Hof zwischen Block 10 und Block 11 im Stammlager Auschwitz mit der "Schwarzen Wand", an der zahlreiche Opfer erschossen wurden / © Roland Vossebrecker ( privat )

Überreste des sogenannten "weißen Hauses", das als provisorische Gaskammer diente / © Roland Vossebrecker (privat)
Überreste des sogenannten "weißen Hauses", das als provisorische Gaskammer diente / © Roland Vossebrecker ( privat )
Quelle:
DR