Misereor: US-Abzug aus Afghanistan gefährdet Frauenrechte

"Die Frauen befürchten, dass sie ans Haus gebunden werden"

Seit dem Sturz der Taliban 2001 dürfen Mädchen in Afghanistan eine Schule besuchen und Frauen ohne männliche Begleitung das Haus verlassen. Könnte sich das mit dem Abzug der US-Truppen ändern? Eine Einschätzung von Misereor. 

Mütter mit ihren Kindern in einer Klinik in Afghanistan  / © Rafiq Maqbool (dpa)
Mütter mit ihren Kindern in einer Klinik in Afghanistan / © Rafiq Maqbool ( dpa )

DOMRADIO.DE: In verschiedenen Regionen Afghanistans wird zwischen nationalem Militär und den Taliban heftig um die Vorherrschaft gekämpft. Wie ist die aktuelle Situation im Land?

Anna Dirksmeier (Afghanistan-Referentin bei Misereor): Das Land befindet sich mitten im Bürgerkrieg und natürlich auch international im Krieg durch den Einsatz der US-Truppen und der NATO. Im Moment herrschen die Taliban über bis zu zwei Drittel des Landes.

Anfang der Woche wurde berichtet, dass es wieder viele Tote und Verletzte beim Angriff auf die Stadt Kundus gegeben hat. Immer wieder rücken Truppen vor. Das ist besonders für die Taliban wichtig, weil sie ihre militärische Stärke unter Beweis stellen wollen, um als Verhandlungspartner in einem Friedensabkommen ernst genommen zu werden und eben auch ihre militärische Macht zu einer politischen werden soll. Und genau da liegt auch das Problem.

Die Frage ist, was nach einem Friedensschluss passiert, wenn man davon überhaupt reden kann. Im Moment geht es nur darum, dass die Amerikaner einen Großteil ihrer Truppen abziehen. Doch wer füllt dann dieses Vakuum? An den amerikanischen Truppen, die auch als Schutzmacht für die NATO gelten, hängen die Einsätze der anderen Länder. Es ist davon auszugehen, dass diese dann auch nach und nach ihre Truppen verringern werden. Aber für die Bevölkerung stellt sich die Frage, was für ein Regime folgen wird.

Die Demokratie in Afghanistan ist sehr, sehr schwach. Das sieht man daran, dass der Präsident überhaupt nicht zu den bisherigen Friedensgesprächen eingeladen war. Diese fanden ausschließlich zwischen den Taliban und den US-Unterhändlern statt - aus unserer Sicht ein großer Fehler. Es schwächt natürlich die Demokratie und ihre demokratischen Einrichtungen, wenn der Präsident lediglich als von den USA eingesetzte Marionette der Taliban gesehen wird. Die Frage ist, ob jetzt die gesamte Demokratie gefährdet ist.

DOMRADIO.DE: Können Sie einschätzen, welche Auswirkungen das auf die Lage der Frauen im Speziellen hat?

Dirksmeier: Ja, die Frauen mussten in der Zeit der Taliban - Mitte der Neunzigerjahre bis 2001 - zuhause bleiben. Sie durften nicht einmal Grundschulen besuchen und hatten überhaupt keine Bildung. Das muss man sich mal vorstellen. Das bedeutet auch, dass sie nichts über grundlegende Gesundheitsversorgung wissen. Wie sollen sie für ihre Familien zuständig sein, wenn sie nicht wissen, wie Geburten ablaufen und die einfachsten Krankheiten nicht kurieren können?

Bildung ist mehr als Rechnen und Lesen, es bezieht sich auf alle Alltagsfähigkeiten. Seit 2001 dürfen Mädchen in die Schule gehen, viele Bildungseinrichtungen sind entstanden. Das Analphabetentum, das unter den Taliban weit über 90 Prozent lag, konnte auf die Hälfte reduziert werden. Frauen sind inzwischen so qualifiziert, dass sie z.B. auch Journalistinnen sind und qualifizierte Jobs einnehmen. Sie haben sich auch schon öfter im Friedensprozess zu Wort gemeldet, wollen mit ihren Rechten ernst genommen werden und diese nicht verlieren. Die Generation nach den Taliban kennt jetzt ein anderes Leben und möchte diese Rechte auf jeden Fall verteidigen.

DOMRADIO.DE: Man hat im Moment das Gefühl, dass es wieder einen Schritt zurückgeht. Misereor fördert den Verein "Afghanistan Schulen". Ein Bildungszentrum dieses Vereins musste aber schließen. Warum?

Dirksmeier: Das war der Tatsache geschuldet, dass die Taliban den Bezirk eingenommen haben und eines der Zentren, das Misereor über den Verein "Afghanistan Schulen" unterstützt, praktisch mit der Einnahme dieses Bezirks an die Taliban fiel. Die Frage ist nun, ob das vorübergehend ist, was nach Abzug der Truppen verhandelt wird und wie die Situation dann für Frauen sein wird.

Wir fürchten, dass es den Amerikanern bei den bisherigen Friedensgesprächen nur um die eigene Sicherheit geht. Das ist jedenfalls das, was auch an die Öffentlichkeit getragen wurde. Ein kompletter Waffenstillstand ist nicht Teil der Verhandlungen. Im Moment geht es nur darum, dass die Regionen, in denen die Amerikaner stationiert waren, nicht weiter angegriffen werden.

Bisher ist sehr wenig dabei herausgekommen. Die Frauen befürchten natürlich jetzt, insbesondere wenn die Schutztruppen abziehen, dass sie wieder ans Haus gebunden werden. Das ist auch in dem Fall des Zentrums, das geschlossen wurde, eingetroffen. Als die Taliban das Zentrum eingenommen haben, haben sie die Frauen, die auf dem Weg zum Zentrum waren, gestoppt und nach Hause zurückgeschickt, mit den Worten: Sie müssten nach Hause, bräuchten keine Bildung und dürften nur noch das Haus in Begleitung des Vaters oder des Bruders verlassen - und auch nur dann, wenn sie zum Arzt müssen. Sie wurden also ganz klar wieder ans Haus verwiesen, wo sie eingesperrt werden und keine Möglichkeit haben, ihre Bildung weiterzuführen. Wir hoffen allerdings, dass das ein vorübergehender Zustand ist. Taliban ist nicht gleich Taliban. Zum Teil kamen Taliban - um ihre Position zu stärken - aus Ländern wie Usbekistan oder Tadschikistan nach Afghanistan. Die sind zum Teil viel radikaler als die Taliban aus Afghanistan selbst, die in den letzten Jahren zum Teil mitbekommen haben, dass sie auch die Frauen brauchen, wenn sie einen Teil der Regierung stellen wollen, da sie über nicht genügend qualifizierte Menschen verfügen.

Es gibt auch Zweige der Taliban, die Frauenbildung unterstützen. Man muss genau sehen, welche Kräfte die Oberhand bekommen. Auf jeden Fall ist es wichtig, dass die progressiven Kräfte mehr Unterstützung aus dem Ausland erhalten. Und dass es nicht nur darum gehen kann, die eigene Sicherheit im eigenen Land, siehe USA, vor Anschlägen zu schützen, sondern auch darum, was ein Nachkriegsszenario mit einer schwachen Regierung bedeutet.

Das Gespräch führte Verena Tröster.


Quelle:
DR