Herzreliquie spricht bestimmte kirchliche Milieus an

"Gehört zum traditionellen Katholizismus"

Die Herzreliquie des "Cyber-Apostels" Carlo Acutis zieht zurzeit Gläubige in Deutschland an. Aber passt diese Art der Glaubensausübung noch in die Zeit? Religionssoziologe Michael Ebertz sieht Parallelen zu profanen Verehrungsformen.

Ein Mann empfängt den Segen durch die Herzreliquie des Seligen Carlo Acutis im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach
Ein Mann empfängt den Segen durch die Herzreliquie des Seligen Carlo Acutis im Kölner Dom / © Nicolas Ottersbach

DOMRADIO.DE: Wenn sich Ihnen die Gelegenheit böte, würden Sie dann zum Herzen des seligen Acutis pilgern?

Prof. Dr. Dr. Michael N. Ebertz (Religionssoziologe und Theologe): Nein, ich gehöre nicht diesem Milieu an, das eine solche Form der Frömmigkeit pflegt. Aber ich kann sie dulden, solange sie nicht meine Form der Frömmigkeit tangiert.

DOMRADIO.DE: In München und Köln waren die Gottesdienste zur Verehrung des Herzens knallvoll. Womit erklären Sie sich die Popularität der Herztournee?

Teilnehmer stehen an, um sich nach einem Gottesdienst mit einer Herz-Reliquie Carlo Acutis am 21. Juli 2024 in der Heilig-Geist-Kirche in München segnen zu lassen. / © Christoph Renzikowski (KNA)
Teilnehmer stehen an, um sich nach einem Gottesdienst mit einer Herz-Reliquie Carlo Acutis am 21. Juli 2024 in der Heilig-Geist-Kirche in München segnen zu lassen. / © Christoph Renzikowski ( KNA )

Ebertz: Ein solcher Reliquienkult - die Verehrung zerstückelter Leichenteile - gehört zum traditionellen Katholizismus. Man sieht verwandte Formen des Reliquienkults auch im profanen Bereich. Denken Sie an Popstars oder an Fußballstars, von denen Fans auch gerne irgendwelche Locken oder irgendwelche Klamotten haben möchte. So etwas haben wir durchaus auch im profanen Bereich. Das Herz ist natürlich ein sehr prominenter und sehr bedeutungsgeladener Körperteil. Der spielt in der katholischen Tradition eine große Rolle, denken Sie an den Herz-Jesu-Kult. Aber auch im profanen Bereich ist es ein wichtiges Symbol. "Mein Herz will ich dir schenken ... " - da trifft sich Religiöses und Profanes.

Michael Eberts

"Schalke 04 hat mittlerweile auch eigene Friedhöfe und Kapellen. Beckenbauer wird als Fußballgott oder auch als Fußballheld bezeichnet."

DOMRADIO.DE: Wäre so ein Kult auch im sogenannten säkularen Bereich möglich?

Ebertz: Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Denken Sie an die Fußballwelt. Clubs wie Schalke 04 haben mittlerweile auch eigene Friedhöfe und Kapellen. Beckenbauer wird als Fußballgott oder auch als Fußballheld bezeichnet. Ich könnte mir vorstellen, dass jemand auf die Idee käme, das Herz von Beckenbauer von Stadion zu Stadion zu transportieren. Man würde dann wahrnehmen, dass hier eine Art Konkurrenzreligion zum traditionellen Katholizismus entsteht.

Prof. Dr. Michael Ebertz, Religionssoziologe und Theologe / © Katholische Hochschule Freiburg (epd)
Prof. Dr. Michael Ebertz, Religionssoziologe und Theologe / © Katholische Hochschule Freiburg ( epd )

DOMRADIO.DE: Nun gibt es aber heute auch große Teile der Gesellschaft, die es makaber oder sogar fies finden, wenn einem verstorbenen Teenager Teile seines Herzens aus dem Leib geschnitten werden, um das Herz dann zu verehren.

Ebertz: Die würden das vielleicht sogar als Leichenfledderei bezeichnen. Man sieht, dass die Perspektiven sehr unterschiedlich sind. Das sind konträre Perspektiven, auch Milieuperspektiven. Menschen stellen die Urnen mit der Asche ihres verstorbenen Hundes oder Ehepartners ins Wohnzimmer oder hängen sie sich in gepresster Form um den Hals.

Auch zwischen den Kirchen gibt es wechselseitige Irritationen unterschiedlicher religiöser Praktiken. Wir haben Kämpfe darum, was als legitime Form des Christlichen gilt. Da sind wir auch im katholischen Feld mittendrin. Ich sehe diese Herztournee auch als einen Ausdruck einer pastoralen Strategie, einer ganz bestimmten Fraktion in der Kirche, die versuchen will, diese traditionellen Formen wieder nach oben zu bringen.

Segnung der Herz-Reliquie des seliggesprochenen Carlo Acutis / © Nicolas Guyonnet / Hans Lucas (Reuters)
Segnung der Herz-Reliquie des seliggesprochenen Carlo Acutis / © Nicolas Guyonnet / Hans Lucas ( Reuters )

DOMRADIO.DE:  Forciert so eine Herzverehrung nicht die Spaltung zwischen volkstümlicher, traditionsaffiner Frömmigkeit und liberalen, intellektuellen Katholiken?

Ebertz: Ja, die Spaltung haben wir - nicht erst heute. Sie wird nur nicht immer so deutlich. Aber an solchen Inszenierungen wird sie natürlich zugespitzt. Wir finden sie aber auch an bestimmten Wallfahrtsorten. Denken Sie an Lourdes oder an Fatima. Dort versammeln sich auch bestimmte Fraktionen des Katholizismus und pflegen ihre Frömmigkeit. Da gehen andere Katholikinnen und Katholiken erst gar nicht hin. Wir haben einen segmentierten Katholizismus, der manchmal auch kämpferisch auftritt, wobei sich dann verschiedene Vertreter wechselseitig auch das Katholische absprechen können. Das ist ja faktisch der Fall. Trotzdem bleibt der Laden irgendwie noch zusammen, was einen manchmal schon verwundern kann.

Michael Eberts

"Das Höhere, das Heilige, das eigentlich Unbestimmbare wird hier irgendwie greifbar in einem Herzkult."

DOMRADIO.DE: Besteht denn nicht aber auch die Gefahr, dass die katholische Kirche mit so einer Herzverehrung als kurios gilt und es Menschen davon abhält, sich überhaupt mit der katholischen Kirche zu beschäftigen?

Ebertz: Ja, das ist für bestimmte Milieus eine massive Irritation. Was für die einen Kitsch ist, ist für andere heilig. Man verehrt Heilige oder zündet Kerzen an. Da kann man sich auch fragen: Für was tut man das denn eigentlich? Eine Kerze anzuzünden ist eine der beliebtesten symbolischen Handlungen, auch von sogenannten Säkularen, nicht kirchlich Orientierten. Die machen das und sie glauben irgendwie noch an etwas Höheres. Das Höhere, das Heilige, das eigentlich Unbestimmbare wird hier irgendwie greifbar in einem Herzkult. Religion gibt nicht nur zu denken, und sie ist in den vergangenen Jahrzehnten bei vielen doch etwas sehr Kognitives geworden. 

Im Herzkult zeigt der Katholizismus eine Art Unmittelbarkeitskult. Heute gehen die Menschen auf den Sportplatz, eine Party oder ein Popkonzert und versetzen sich in Trance. Dort haben wir ekstatischen Formen des Religiösen. Im Grunde könnte man sagen, auch der Katholizismus versucht hier mit seinem Herzkult, eine Art katholische Ekstase zu erzeugen.

Michael Eberts

"Man kann genauso erstaunt vor weinenden Madonnen und vor bestimmten Gesängen und Praktiken in Lourdes stehen."

DOMRADIO.DE: Eine Kerze am Dom anzuzünden lässt sich aber leichter vermitteln als die Verehrung eines Teenagerherzens. Was sagen Sie denn denen, die wirklich das sehr befremdlich finden?

Ebertz: Ich kann damit nichts anfangen, muss ich definitiv sagen. Es ist nicht mein Milieu. Als Beobachter kann man genauso erstaunt vor weinenden Madonnen und vor bestimmten Gesängen und Praktiken in Lourdes stehen. Da wissen viele auch nicht, was sie davon halten sollen. Das gibt es aber in Massen, aber es ist nicht mehr so ohne Weiteres in unserer doch sehr stark intellektuell geprägten Wahrnehmung. Schon gar nicht im protestantisch geprägten Deutschland. 

Wenn Sie nach Brasilien gehen oder nach Italien, sieht die Welt schon ganz anders aus. Ich möchte diese Praktiken weder empfehlen noch verteidigen, sondern mein Zugang ist, als Religionssoziologe solche Phänomene erst mal zu verstehen. Als eine pastorale Strategie, die zukunftsfähig ist, würde ich das niemals empfehlen. Das steht aber auf einem anderen Blatt. Ich hatte jetzt versucht, erst mal solche Phänomene einzuordnen. Die gibt es weitaus mehr, als wir auf unserem Schirm haben als intellektuell orientierte Journalisten oder auch Soziologen.

Das Interview führte Johannes Schröer.

Freunde Carlo Acutis

Kurz nach der Seligsprechung Carlo Acutis hat sich auch in Deutschland ein Freundeskreis gegründet, um in engem Kontakt mit den italienischen Freunden Carlos und seiner Mutter, über Carlo zu informieren und alle zu vernetzen, die an Carlo und seiner Spiritualität interessiert sind.

Jugendlicher "Cyber-Apostel" Carlo Acutis seliggesprochen / © Gregorio Borgia/AP (dpa)
Jugendlicher "Cyber-Apostel" Carlo Acutis seliggesprochen / © Gregorio Borgia/AP ( dpa )
Quelle:
DR