Für eine menschenfreundliche und zeitgemäße Sexualethik plädiert Eberhard Schockenhoff in seiner letzten, nun posthum erschienenen Studie "Die Kunst zu lieben: Unterwegs zu einer neuen Sexualethik". Auf knapp 500 Seiten zeichnet der im Juli 2020 verstorbene Freiburger Theologe detailliert die historischen und philosophischen Entwicklungslinien christlicher und katholischer Theologie zu Sexualität, Ehe und Familie nach.
Dabei wendet er sich gegen eine Engführung kirchlicher Morallehre zur bloßen Verbotslehre und fordert vom katholischen Lehramt einen Paradigmenwechsel: Denn die Lehrsätze kirchlicher Sexualmoral seien eben keine von Gott in die Natur des Menschen geprägten, unveränderlichen Normen.
Im Gegenteil: Wenn einzelne Aussagen der katholischen Sexualmoral nicht dazu beitrügen, den Menschen näher zu Gott zu führen "und ihm das Geheimnis seiner Liebe zu erschließen", könne es nur eine Konsequenz geben, fordert Schockenhoff: "das ärgerliche Glaubenshindernis zu beseitigen, indem man die kirchliche Lehre in diesem Punkt revidiert".
"Vielfalt der Sinnendimensionen der Sexualität"
Konkret bezieht er diese Forderung etwa auf Neubewertung und Differenzierungen im Blick auf Verhütung, Homosexualität und außereheliche Sexualität. Sexualität dürfe nicht länger auf ihren "primären Naturzweck" der Fortpflanzung reduziert werden. Stattdessen solle das kirchliche Lehramt die "Vielfalt der Sinnendimensionen der Sexualität" anerkennen: etwa die Bedeutung von Sexualität für Beziehungen oder als Beitrag zur menschlichen Identitätsfindung.
Zugleich wendet sich Schockenhoff in dem im Verlag Herder erschienen Buch gegen oberflächliche Antworten oder eine Anbiederung an den vermeintlichen "Zeitgeist". So charakterisiert er Familie als gesellschaftlich bedeutenden "Lebensraum der Liebe". Keineswegs seien die kirchliche Lehre der unauflöslichen Ehe und das lebenslange Treueversprechen Auslaufmodelle, davon ist er überzeugt.
Abwägung zwischen Selbstbestimmung und Elternschaft
Im Blick auf Kinderwunschplanung und Verhütung spricht er sich für eine sorgsame Abwägung zwischen dem "Ethos von Selbstbestimmung" und der grundsätzlichen Offenheit für Kinder in verantworteter Elternschaft aus. Das in der Enzyklika "Humanae vitae" 1968 formulierte rigorose Verbot von Verhütung habe hier viel zu lange einen Brückenschlag von katholischer Morallehre und Moderne verhindert, so Schockenhoff.
Statt die positiven Ansätze des Zweiten Vatikanischen Konzils aufzugreifen und fortzuführen, habe das Papstmachtwort der "Pillenenzyklika" einen wesentlichen Anteil an der bis heute andauernden Entfremdung zwischen kirchlicher Sexuallehre und tatsächlicher Lebensgestaltung der Katholiken. Erst bei Papst Franziskus sieht Schockenhoff erste Ansätze, um Auswege aus dieser «kirchlichen Sackgasse» zu suchen.
Um Änderungen anzustoßen und zu begleiten, engagierte sich Schockenhoff auch selbst - bis zu seinem überraschenden Unfalltod im Juli 2020 - stark im Reformprozess Synodaler Weg der katholischen Kirche in Deutschland. In dieser Woche (4. Februar) wird die Synodaler-Weg-Vollversammlung erstmals ohne ihn tagen. Antworten und Perspektiven für die bei der Online-Tagung verhandelten Fragen finden sich nun in seinem letzten Buch.
Das er allerdings nicht mehr vollständig abschließen konnte: Geplant waren noch konkrete Vorschläge für innerkirchlich diskutierte Streitfragen, etwa zu Homosexualität oder außerehelichem Sex. Hier blieb es bei einer ersten Skizze, die im Anhang des Buchs dokumentiert ist.