Die monumentale h-moll-Messe von Johann Sebastian Bach ist ein einziger Widerspruch in sich – der überzeugte Lutheraner, der auch vor polemischen Musik-Aussagen gegen Katholiken nicht zurückschreckte (Kantate BWV 126: "Und steur’ des Papsts und Türken Mord"), schuf mit ihr eines der größten musikalischen Kunstwerke der Menschheitsgeschichte. Sie ist sein letztes großes Vokalwerk, wurde nur etwa ein Jahr vor seinem Tod vollendet – einen Grund für ihre Existenz gibt es nicht.
Als evangelischer Thomaskantor hatte Bach keine Verwendung für sie. Eine Messe konzertant – also losgelöst vom Gottesdienst – aufzuführen, war damals undenkbar. Vermutungen, er habe sie doch als Auftragswerk geschrieben, laufen ins Leere und erklären auch nicht, warum Bach sich so lange mit der lateinischen Messe beschäftigte. Dazu kommt der merkwürdige Umstand, dass Bach kaum neue Musik für die h-moll-Messe schrieb, sondern vor allem ältere Werke dafür umarbeitete – und doch wirkt die Vertonung wie aus einem Guss, obwohl die Musik teilweise mit Abständen von Jahrzehnten entstand.
Zelenka schrieb gleich mehrere "letzte Messen"
Während die h-moll-Messe mehr Fragen als Antworten gibt, ist die Situation bei Bachs Zeitgenossen Jan Dismas Zelenka wesentlich klarer: auch bei ihm gibt es das Phänomen der letzten Messe(n) ohne Anlass, aber als Katholik und Jesuitenschüler sind die Motive eindeutig identifizierbar. Fast sein ganzes Leben lang wirkte er als Instrumentalist und Komponist am Dresdner Hof, der kurz zuvor zur katholischen Konfession zurückgekehrt war. Für die Kirchenmusik am Hof komponierte Zelenka zahlreiche Werke – Motetten, Psalmen und eben Messvertonungen. Gegen Ende seines Lebens gab er eine Sammlung mit letzten Messen heraus, den "Missae ultimae".
Das Besondere: die meisten Messvertonungen schrieb Zelenka für einen konkreten Anlass am Dresdner Hof – oder eben sozusagen für sich selbst, als musikalisches Vermächtnis und vor allem als Ausdruck seines persönlichen Glaubens, denn Zelenka war - nach allem was wir von ihm wissen - ein tiefgläubiger Katholik und schrieb seine Werke vor allem zum Lobe Gottes - das dürfte auch der Antrieb für die letzten Messen gewesen sein, die nicht für eine konkrete Aufführung gedacht waren.
Die Missa ultima als Vermächtnis
Auch bei Zelenkas Zeitgenossen und direkten Vorgesetzten am Dresdner Hof, Johann Adolph Hasse, gibt es das Phänomen der letzten Messe. Er ist heutzutage nur noch wenigen Musikliebhabern wirklich ein Begriff. Doch tatsächlich war Hasse in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einer der bekanntesten und vor allem erfolgreichsten Komponisten überhaupt. Besonders auf dem Gebiet der Oper feierte er wahre Triumphe. Für den Dresdener Hof schrieb er 1731 die Oper "Cleofide". Die Uraufführung in Dresden war ein riesiger Erfolg. Der sächsische Kurfürst war von Hasse so begeistert, dass er dem mittlerweile zum Katholizismus übergetretenen Musiker die Stelle des Sächsischen Hofkapellmeisters anbot.
Hasse prägte daraufhin in seiner neuen Stelle mehr als dreißig Jahre lang das musikalische Leben der Stadt. Und seine letzte Messvertonung, die Missa ultima in g, ist dieser Zeit, ist dem Sächsischen Hof gewidmet.
Für Hasse war es tatsächlich die ultimative Messe, denn als er sie schrieb wusste er, dass er bald sterben würde. Denn er befand sich mit 84 Jahren am Ende eines sehr erfolgreichen Lebens als Komponist. Die Missa ultima in g ist sein letztes Werk, sie entstand 1783 in Venedig, wo Hasse einige Monate später auch starb. Genau wie Zelenka schloss Hasse mit der Vertonung der katholischen Messe sein kompositorisches Wirken ab.
Bei Mozart war die letzte Messe gleich ein Requiem
Nur wenige Jahre nach Hasse starb auch Wolfgang Amadeus Mozart - aber viel jünger und noch längst nicht am Ende eines langen Lebens. Sein berühmtes Requiem passt nur bedingt in die Reihe der "letzten Messen" - mit nur 35 Jahren wurde er aus dem Leben gerissen und sah in der Totenmesse wohl kaum sein Vermächtnis, zumal er sie nur ansatzweise fertigstellen konnte.
Ludwig van Beethoven "überlebte" seine große katholische Messvertonung, die "Missa solemnis", um einige Jahre - doch er beschrieb das Werk als das Beste, was er je geschrieben habe.
Beethoven war kein Kirchgänger, Bach noch nicht mal katholisch und Zelenka hatte so viele Messen komponiert - warum dann als letztes Werk ausgerechnet das lateinische Ordinarium?
Warum soviel Mühen?
Die großen Komponisten kannten alle die Musiktradition und wusste, dass die fünf Teile der katholischen Messe schon seit Jahrhunderten vertont wurden - vielleicht wollten sie zu dieser bedeutenden musikalischen Gattung zum Ende ihres Wirkes ihren persönlichen Beitrag erbringen, vielleicht war es bei Bach auch nur sein Sinn für Zyklen wie beim "Wohltemperierten Klavier" oder bei Beethoven der Stolz darüber, in einem Werk sowohl die Tradition zu zitieren, aber auch ganz moderne Musik zu schreiben: Komponisten wie ihnen verdankt die Musikwelt besonders eindrucksvolle Messvertonungen - ihre genauen Motive, warum sie soviel Mühen für Kompositionen auf sich nahmen, die sie zu Lebzeiten wohl nicht mehr komplett hören würden, bleibt das Geheimnis der Musiker.
In der Sendung "Musica" erklingen am Abend des 1. Mai ab 20 Uhr Auszüge aus der h-moll-Messe, der Missa ultima in g und der Missa Dei Filii.