Befreiungstheologe über Bolsonaros Politik gegen Indigene

"Die Regierung agiert am Rande der Legalität"

Die brasilianische Justiz ermittelt wegen illegaler Einflussnahme von Präsident Jair Messias Bolsonaro auf die Bundespolizei. Alarmiert ist deswegen der deutsche Theologe Paulo Süss, geht es doch um die Indigenenpolitik des Präsidenten.

Präsident Bolsonaro trifft Indigene / © Marcos Correa/Agencia Brazil (dpa)
Präsident Bolsonaro trifft Indigene / © Marcos Correa/Agencia Brazil ( dpa )

Am Freitag hat der Oberste Gerichtshof Brasiliens einen Videomitschnitt einer Kabinettssitzung unter Präsident Jair Messias Bolsonaro veröffentlicht. Der Mitschnitt sorgte wegen der Ansichten von Ministern über den Umweltschutz und die Indigenenpolitik für Aufsehen. Der 82-jährige deutsche Theologe Paulo Süss (Paul Günther Süss) lebt seit den Sechzigerjahren in Brasilien, wo er als Generalsekretär des katholischen Indigenenmissionsrats (Cimi) tätig war. Dort wirkt er weiterhin als Berater.

KNA: Umweltminister Ricardo Salles sagte in der Sitzung, man müsse ausnützen, dass die Presse mit Covid-19 abgelenkt ist, um die Umweltgesetze zu schleifen.

Paulo Süss (Theologe): Das hat mich schockiert. Man will die Spielregeln für die Landvermessung in Amazonien lockern. Und das ist ja schon vorgesehen in der vorläufigen Gesetzesmaßnahme MP 910, die die Regierung im letzen Jahr herausgegeben hat.

KNA: Bei der es darum geht, illegale Landbesetzungen im Nachhinein zu legalisieren und eine Amnestie für die Täter zu erlassen.

Süss: Salles sagt, man müsse jetzt "die Rinder über den Fluss treiben", also Tatsachen schaffen. Das ist ganz am Rande der Legalität. Und es betrifft ja auch Indigenenland. Wir verfassen gerade beim Cimi den Jahresbericht 2019 zu den Landbesetzungen und Gewalttätigkeiten gegen Indigene. Es gab 202 Besetzungen von Indigenenland, und man spürte dabei bereits die Auswirkungen der MP 910, sowohl bei der steigenden Gewalt wie beim zunehmenden Landraub.

KNA: Die jüngsten Veränderungen bei der Indigenenbehörde Funai gehören auch dazu?

Süss: Die Funai hat im Zuge der Flexibilisierung die Direktiven zur Vermessung von Indigenenland verändert. Das hat ganz verheerende Auswirkungen. In den ersten vier Monaten dieses Jahres haben die illegalen Abholzungen in Amazonien um 67 Prozent zugenommen, davon ist ein großer Teil Indigenenland. Auch illegaler Bergbau und Landraub haben zugenommen. Wir sind sehr besorgt.

KNA: In dem Mitschnitt sagt die Ministerin für Menschenrechte, Damares Alves, dass Indigene absichtlich mit Covid-19 angesteckt wurden, um es der Regierung in die Schuhe zu schieben.

Süss: Die Regierung verteilt die Corona-Hilfen von etwa 100 Euro pro Monat auch an Indigene. Das Geld müssen sie sich in den Städten abholen, wo sie tagelang vor den Banken warten müssen. Als Ergebnis haben wir nun in über 60 Ethnien das Coronavirus.

KNA: Bildungsminister Abraham Weintraub äußert sich in dem Video herablassend über die Indigenen.

Süss: Er sagt: "Ich hasse den Ausdruck indigene Völker, ich hasse diesen Ausdruck, ich hassen ihn. Es gibt nur ein Volk in diesem Land, das ist das brasilianische Volk. Man muss aufhören mit diesem Geschäft der Völker und Privilegien." Das ist die Ideologie der Militärdiktatur...

KNA: ...die Brasilien von 1964 bis 1985 regierte

Süss: ...und die die Indigenen in Brasilianer verwandeln wollte. Man nannte das "Integration", aber hat die Indigenen in den Ethnozid, in den Völkermord geführt. Ihre Kultur sollte verwandelt und damit ausgerottet werden, ihre Sprachen und Bräuche. Das hat Weintraub noch im Hinterkopf. Die Verfassung von 1988 garantiert den Indigenen jedoch das Recht auf ihre eigene Identität, auf Land, auf Kultur und Sprache. Das ist kein Privileg, sondern ihr Recht. Aber Herr Weintraub hat das noch nicht verdaut. Er denkt noch wie die Militärs: ein Volk, eine Kultur, eine Nation.

KNA: Präsident Bolsonaro sagt in dem Video, er wolle die Bevölkerung bewaffnen, um eine Diktatur zu verhindern und die Demokratie zu verteidigen. Wer soll da bewaffnet werden?

Süss: Da denkt er an seine Unterstützer, die eine Minderheit von 25 Prozent darstellen. Und an die Landbesitzer. Und nicht nur zum Schutz, sondern auch zur Landerweiterung. In den letzten Monaten sind ja einige Indigenenführer ermordet worden. Das geht über die Verteidigung des Privatbesitzes hinaus. Das ist zum Angriffskrieg übergegangen. An die Demokratie denkt er jedenfalls nicht. Mit Leuten, die eine andere Meinung haben, kann er ja nicht zusammenarbeiten. Aber das ist ja Demokratie.

KNA: Wieso hört man derzeit wenig von der Kirche dazu?

Süss: Es gibt schon katholische Rundfunksender, die deutlich ihre Meinung sagen. Aber die Kirche ist gespalten, eine Minderheit hat Bolsonaro gewählt und verteidigt ihn. Es werden aber immer weniger.

Aber das gehört zur Demokratie. Einstimmigkeit wird es nie geben, gibt es ja auch im Vatikan nicht. Aber wenn wir erst handeln wollen, wenn es Einstimmigkeit gibt, kommen wir nie zum Handeln.

Das Interview führte Thomas Milz.


Paulo Suess, Befreiungstheologe / © Barbara Mayrhofer (KNA)
Paulo Suess, Befreiungstheologe / © Barbara Mayrhofer ( KNA )

Indigene im Amazonas-Gebiet vom Coronavirus betroffen / © Rodrigo Abd (dpa)
Indigene im Amazonas-Gebiet vom Coronavirus betroffen / © Rodrigo Abd ( dpa )

Coronavirus in Brasilien: Indigene Frauen fertigen Mundschutze für die Gemeinde an / © Lucas Silva (dpa)
Coronavirus in Brasilien: Indigene Frauen fertigen Mundschutze für die Gemeinde an / © Lucas Silva ( dpa )
Quelle:
KNA