Die Roma-Wallfahrt nach Les Saintes-Maries-de-la-Mer

Ins Meer reiten mit der heiligen Sarah

Es ist ein Ort der Kindstaufen und der Brautschau, des Wiedersehens und des gemeinsamen Feierns. Im Süden der Camargue treffen sich Ende Mai Roma und Sinti aus ganz Europa zu ihrer Wallfahrt.

Autor/in:
Alexander Brüggemann
Roma-Wallfahrt (Archiv) (KNA)
Roma-Wallfahrt (Archiv) / ( KNA )

Aus dem brechend vollen Gotteshaus schallen Kastagnetten und Gitarren. Vor der Kirche kämpfen sich mehrere Priester durch die Menge, um die Kommunion verteilen zu können. Bunt gekleidete Roma-Frauen versuchen, den Schaulustigen gegen Geld Glücksbringer anzuheften - "für das Fest der heiligen Sarah".

Jedes Jahr am 24. Mai lockt Sarah Tausende Menschen an, Wallfahrer und Schaulustige. Eigentlich viel zu viele für Les Saintes-Maries-de-la-Mer, das Hauptörtchen der südfranzösischen Camargue mit seinen knapp 2.500 Einwohnern. Die Roma und Sinti, die Manouches und Gitans, die "Zigeuner" oder wie sie sonst noch in Europa genannt werden, sie feiern hier an der Mündung der Kleinen Rhone ihre Schutzheilige Sarah.

Kerzen biegen sich

Nach der Messe drängt alles auf die Krypta der romanischen Wehrkirche zu, um der schwarzen Sarah die Aufwartung zu machen. Als wäre es noch nicht heiß genug von den Hunderten Kerzen, die sich unter der eigenen Hitze biegen, haben Verehrer die Sarah-Figur in selbstgenähte Kleider gesteckt. Nun gilt es, ihr Gewand oder ihren Holzschrein zu berühren.

Inbrünstig lehnen sich Männer wie Frauen an ihre Brust, blicken zu ihr auf oder flüstern ein Gelübde. Ein gewisser Prozentsatz ist tiefer Glaube, einer ist Folklore, einer wohl auch Show. Wer vermag die Anteile einzuschätzen? Zwei andere Statuen, die von Maria Jakobäa und Maria Salome, stehen fast unbeachtet in einer Nische an der seitlichen Kirchenwand. Noch. Ihr großer Tag ist morgen.

"Liu Santo", heiliger Ort, so wird Les Saintes-Maries-de-la-Mer auch von den Provenzalen genannt. Schon seit dem sechsten Jahrhundert sind hier christliche Wallfahrten belegt. Doch erst im späten Mittelalter bildete sich um die Wallfahrtskirche das heutige Städtchen aus.

Prominent besetztes Boot aus dem Heiligen Land

Die Legende der Marien ist abenteuerlich. Bei einer ersten Christenverfolgung um das Jahr 45 soll ein steuerloses Boot von Palästina aus ins Meer gestoßen worden sein. An Bord: die "Sünderin" Maria Magdalena; Maria Kleophas, Mutter des Apostels Jakobus des Jüngeren; Maria Salome, die Mutter der beiden Apostel Johannes und Jakobus des Älteren, Märtyrer in Jerusalem und in Santiago de Compostela besonders verehrt. Allesamt waren die Marien treue Anhängerinnen Jesu und am leeren Grab erste Zeuginnen seiner Auferstehung.

Roma-Wallfahrt (Archiv) (KNA)
Roma-Wallfahrt (Archiv) / ( KNA )

Verehrung mehrere Heiligen

Verehrt wird hier ein Kollektiv von Heiligen, die im Jahr 41 auf der Flucht vor Verfolgung als Zeugen Christi an der Küste gelandet sein sollen: der auferweckte Lazarus etwa mit seiner Schwester Martha, die heilige Maria Magdalena sowie zwei weitere Marien, Maria Jakobäa und Maria Salome. Sie werden auch geführt als die Mutter Jakobus des Älteren und des Evangelisten Johannes; andere nennen sie als Schwestern der Gottesmutter Maria.

Während jedenfalls die anderen Bootsinsassen laut der Legende ausschwärmten, um anderswo in Gallien zu missionieren, blieben die beiden Marienschwestern vor Ort und wurden auch hier begraben. Immerhin: Offenbar stammen die Gebeine in der Wallfahrtskirche nach neueren Untersuchungen von zwei orientalischen Frauen des ersten Jahrhunderts.

Die dunkelhäutige Sarah kam erst später ins Boot. War sie eine Dienerin der Marien oder eine Äbtissin aus Libyen? Oder war sie, wie die Roma und Sinti überliefern, Oberhaupt einer ortsansässigen Zigeunerfamilie aus der Provence, die die Gestrandeten herzlich empfing und sich und ihre Leute taufen ließ? 

Die Kirche tat sich lange schwer mit der nicht belegten Heiligen. Doch am Ende verdanken gar nicht wenige Kanonisierte ihre Heiligkeit vor allem einer Tatsache: nämlich dass sie verehrt wurden. Bis ins 15. Jahrhundert sollen die Ursprünge der größten Zigeunerwallfahrt Europas zurückgehen. Seit 1858 ist ihre Teilnahme verbürgt.

Lebensfreude allerorten

Überall im Städtchen Fiesta statt Siesta: Klatschen, Lachen, Menschentrauben. Viele Mitglieder des "fahrenden Volkes" kommen jedes Jahr hierher: aus Frankreich und Spanien die meisten, aber auch aus Belgien, Deutschland, der Slowakei, Ungarn oder Rumänien. Das Gebet an ihre Schutzpatronin Sarah ist schlicht und deutlich: "Sarah, führe uns auf die rechte Straße und gib uns dafür Glück. Und gib uns Gesundheit. Und wer auch immer Böses von uns denkt, dem ändere den Sinn, damit er Gutes denkt. Amen."

Am frühen Nachmittag dann der traditionelle Zug ins Meer. Die "Gardians", die Stierhüter der Camargue, stehen hoch zu Ross Spalier, verfolgt von den allgegenwärtigen Handys. Mit ihren Cowboyhüten und den bunt gemusterten Hemden kontrastieren sie mit den "Arleserinnen", den Frauen von Arles, in ihren eleganten schwarzen Samtkleidern und den Sonnenschirmchen im Stil des 19. Jahrhunderts.

"Vive la sainte Sarah. Vive les saintes Maries", schallt es immer wieder aus der bunten Fahnenprozession, die sich, den Bischof von Arles und die geschmückte Sarah umringend, entlang den Andenkenläden dem Strand entgegenwälzt. Dann geht es in die Fluten. Der Bischofsstab verschwindet irgendwo in der Menge, während jubelnde Gardians der Sarah auf ihren Pferden den Weg ins Meer bahnen. Hier wirken die Männer mit ihren Dreizacks, die sonst die Stiere im Zaum halten, wie eine Mischung aus Neptun und Cowboy.

Sie halten erst an, als das Wasser den Pferden bis zum Bauch reicht. Nun steht sie wieder wie einst im Meer, die schwarze Sarah, um die vermeintlichen Ankömmlinge willkommen zu heißen. Damit endet die Zeremonie - für heute. Morgen werden die Rollen getauscht. Dann wird in einem ähnlichen Umzug der Bischof von Arles mit den Marienstatuen in ein Boot gesetzt, um das Meer zu segnen und die Ankunft der beiden Schwestern zu symbolisieren.

Je mehr gegen Sonnenuntergang die schaulustigen Tagestouristen Richtung Festland verschwinden, desto intensiver werden die Gitarren, Kastagnetten, Geselligkeit und Tanz. Die Wallfahrt wird endgültig zum europäischen Familienfest der Sinti und Roma. Generationen schon werden hier Ehen besiegelt, Kinder getauft. Längst sind zwar die bunten Pferdewagen von einst modernen Camping-Caravans gewichen. Doch der Antrieb, der sie hierher bringt, ist derselbe wie immer schon.

Quelle:
KNA