Knapp 900 Meter über dem Meeresspiegel liegt er, der Berg Garizim unweit der Palästinenserstadt Nablus. Von ihm ging biblischen Berichten zufolge der Segen über das Volk Israel aus. Vom Jerusalemer Tempelkult ausgeschlossen sollen hier einst die Samaritaner ihren Tempel errichtet haben - auf jenem Felsen, auf dem nach ihrer Tradition Abraham seinen Sohn Isaak zum Opfer gebunden hatte. Noch immer ist der samaritanischen Kultgemeinde der Berg der Segnungen heilig.
Bis heute feiern sie hier ihre Feste. Pessach etwa, das siebentägige höchste Fest in Erinnerung an den Auszug aus Ägypten, bei dem jedes Jahr Lämmer nach altüberlieferten Riten geschlachtet werden. Ein trockener Knochen auf dem Festtagsteller: Das ist alles, was in der jüdischen Tradition vom Pessachlamm übrig blieb. Denn Schlachtopfer fanden mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels ein abruptes Ende - und mit ihnen das Pessachlamm. Nicht so bei den Samaritanern. Die Religionsgruppe ist wie das Judentum aus dem Volk Israel hervorgegangen. Bis heute versteht sie sich als Hüter und Bewahrer des alten Israel.
Das Wallfahrtsfest Pessach
Buchstabengenau und detailgetreu halten sich die Samaritaner an die 613 Ge- und Verbote der Torah, den einzigen fünf Schriften der hebräischen Bibel, die ihnen als heilig gelten. Die biblischen Spätschriften oder der jüdische Talmud zählen nicht zum samaritanischen Kanon.
Archaisch wie das Schlachtopfer selbst ist die Erscheinung der Männer zum Pessachfest. In lange, weiße Gewänder gehüllt - den traditionellen roten Fes auf dem Kopf, einen hölzernen Stab in der Hand - ziehen die Samaritaner am 14. Nissan auf den Garizim. Pessach ist eines der drei Wallfahrtsfeste, zu der sich die auf zwei Orte, je einen in Israel und Palästina, verstreute Gemeinschaft auf den Weg zu ihrem Heiligtum macht. Samaritanische Diasporagemeinden gibt es heute nicht mehr.
Tausende Zaungäste
Die Samaritaner pflegen traditionell gute Beziehungen zu beiden Völkern im heiligen Land. Trotzdem holt der israelisch-palästinensische Konflikt die Minderheit manchmal ein. Etwa, als Israel vor einigen Jahren den von militärischem Sperrgebiet umgebenen Berg der Segnungen als Nationalpark deklarierte, während die Palästinenser gleichzeitig versuchen, den Garizim und seine heiligen Stätten als palästinensisches Kulturerbe in die Unesco-Welterbeliste eintragen zu lassen. Die kleine Gemeinschaft spürt die verstärkte Aufmerksamkeit auch in anderer Hinsicht: Längst kommen nicht nur Samaritaner, sondern jährlich Tausende Zaungäste, um von der Zuschauertribüne aus der rituellen Schlachtung unter freiem Himmel beizuwohnen.
Auf dem umzäunten Opferplatz wartet das Brennholz auf seinen Einsatz. Jungen, weiß gekleidet wie ihre Väter und die einfachen Priester, hüten die sich unruhig drängenden Lämmer. Vielleicht ahnen sie ihr blutiges Schicksal. Rund 40 Tiere sind es, die an diesem Abend ihr Leben lassen werden.
Besondere Opferzeremonie
Grün inmitten des dominierenden Weiß leuchten die Roben der Priester, die zusammen mit dem Ältesten und Hohepriester die Opferzeremonie leiten. Sie entstammen der hohenpriesterlichen Kaste, die das Erbe des ausgestorbenen biblischen Stammes Aaron angetreten hat. Frauen sieht man unter den um die Opferrinne Versammelten nicht. Traditionell halten sie sich zurück, wenn Väter und Söhne sich zum Sonnenuntergang mit den Tieren aufreihen.
Die Arme hoch in den Abendhimmel gestreckt, beten die Männer. Arabisch und Althebräisch, scheint es, stehen gleichberechtigt nebeneinander. Die biblischen Texte des Abends kommen aus dem Buch Exodus und beschreiben mit jahrtausendealten Worten das rituelle Schauspiel, dem Gläubige und Besucher an diesem Abend beiwohnen. Ein "fehlerfreies, männliches, einjähriges Lamm" für jede Familie, gegen Abend geschlachtet und über dem Feuer gegart und hastig gegessen, die "Schuhe an den Füßen, den Stab in der Hand", wie es der biblische Bericht über den Auszug Israels aus Ägypten will. Eine Zeitreise zurück in die Zeiten der biblischen Urväter.
Präzision und Schnelligkeit sind religiöses Muss
Dann gibt der Hohepriester das Zeichen. Mit schnellen Messerschnitten durchtrennen die Männer den Lämmern die Kehle. Präzision und Schnelligkeit sind dabei ein religiöses Muss: Koscher ist das Fleisch nämlich nur, wenn das Tier nicht lange gelitten hat. Ihr Blut hinterlässt nicht nur Spuren auf den weißen Gewändern. Mit einem Ysopzweig werden Haustüren mit dem Blut besprengt, segnen sich die Männer gegenseitig als Zeichen der Erlösung. Freude und Jubel breitet sich aus unter den Feiernden.
Vorsichtig werden die ausgebluteten Tiere gehäutet und gereinigt, kein Knochen darf dabei verletzt werden. Die Herzen und andere Organe der Opfertiere wandern ins lodernde Feuer des Hauptopferfeuers; die Tiere selbst werden gesalzen und garen, auf Spieße gesteckt, in Brennöfen ähnelnden Feuergruben, deren Öffnung mit einem hölzernen Deckel, Kräutern und Ton verschlossen wird. Erst gegen Mitternacht ist das Fleisch gar, und jede Familie bekommt ihren Anteil. Was nicht bis zum Morgengrauen gegessen wurde, wird ebenfalls verbrannt - ganz so, wie es in der Bibel steht.