Urlauberseelsorge auf Wangerooge

Die Sehnsucht nach Mehr

Noch immer ist der Besucheransturm auf den deutschen Nord- und Ostseestränden groß. Kein Strandkorb steht in diesen Tagen leer. Doch zum Seele baumeln Lassen gehört für manch einen – gerade in Corona-Zeiten – auch das spirituelle Angebot.

Mal die Seele baumeln lassen… / © Beatrice Tomasetti (DR)
Mal die Seele baumeln lassen… / © Beatrice Tomasetti ( DR )

die schönsten Bilder von Wangerooge

Hinter Egbert Schlotmann rauscht das Meer. In sachten Wellenbewegungen wird die weiße Gischt an den Strand gespült. Am blauen Horizont sind schemenhaft vereinzelt Schiffe zu erkennen. Alle sechs Stunden wächst das Land in die Tiefe, legt Muscheln und Meeresboden frei, um sich dann wieder neu von der einsetzenden Flut überrollen zu lassen. Im Auf und Ab des Wassers liegt wohltuende Beständigkeit, fast etwas Meditatives. Die Haare sind zerzaust und die Lippen schmecken salzig. Während der Seelsorger von Wangerooge bei einem Strandgottesdienst über Gott und die "leere Schale der Sehnsucht" des Menschen spricht, pfeift einem die für die Insel typische Briese um die Ohren. Doch die goldene Abendsonne am Ende eines warmen Spätsommertages gibt ihr Bestes, sich gegen die Abkühlung zu stemmen und den Menschen bei dieser Open-air-Messe auch atmosphärisch eine ansprechende Kulisse zu bieten.

Dass in diesem Sommer alles anders ist als sonst, lässt sich bei dieser Momentaufnahme nicht sofort erahnen. Und dass die Deutschen die eigene Heimat als reizvolles Urlaubsziel neu entdeckt haben und von daher selbst die letzte Ferienwohnung zwischen Steilküste und Bahnhof ausgebucht ist, auch nicht. Schließlich ist es im August immer voll auf den Nord- und Ostseeinseln – nicht erst seit Corona und den offiziellen Warnungen, riskante Fernreisen zu meiden. Manche Bundesländer haben erst spät mit den Ferien begonnen, und so ist auf der zweitkleinsten der ostfriesischen Inseln noch immer Hochsaison.

"Diese Form der Seelsorge macht lebendig"

Pfarrer Egbert Schlotmann ist seit fünf Jahren Seelsorger auf Wangerooge und leitet die St. Willehad-Gemeinde. Mithilfe von ehrenamtlichen Teams, die alle zweieinhalb Wochen wechseln, organisiert seine Pfarrei während der Sommersaison für Urlauber gleich eine ganze Palette an Angeboten, die nicht ausschließlich spiritueller Natur sind. Auch kreative und sogar sportliche Einheiten – vor allem für Kinder – sind mit dabei. Schließlich soll sich die ganze Familie angesprochen fühlen und auch in den Ferien eine geistliche Andockstelle haben. Dabei spielt das Thema "Gastfreundschaft" eine zentrale Rolle für Schlotmann. "Bei den vielen tausend Übernachtungen von Gästen hier auf der Insel ist die biblische Botschaft des Willkommen-Seins ein Wesensmerkmal unseres kirchlichen Auftrags", betont er. Entsprechend versteht sich der 57-Jährige, der langjährige Erfahrungen als systemischer Berater und ausgebildeter Exerzitienleiter für diese Aufgabe mitbringt, vorrangig auch als Gastgeber stetig wechselnder Gäste, was er ausgesprochen spannend findet.

"Immer neue Leute – das ist doch faszinierend – auch wenn man nie weiß, wer kommt und was er mitbringt." Tägliches Einerlei kennt der engagierte Seelsorger daher nicht. Auch das passt in sein Konzept. Ein Gottesdienst könne schließlich genauso gut am Leuchtturm, in den Dünen, bei der Feuerwehr, im Rosengarten oder am Flughafen stattfinden – eben an Orten, die für die rund 250 Insulaner bedeutsam seien. "Wichtig ist doch, dass die Menschen merken: Hier ist Kirche unterwegs und hält sich nicht mit internem Klüngel auf. Diese Form der Seelsorge macht lebendig. Man bleibt im Fluss, ich genieße das", gibt Schlotmann unumwunden zu und freut sich über jeden, der kommt und sich von diesen unkonventionellen Zugängen zu Kirche ansprechen lässt. "Kirche kann ganz anders sein, als sie sich gemeinhin nach außen zeigt. Hier stützen wir uns auf das, was unser Selbstverständnis ausmacht." Dabei könne jeder etwas Wohltuendes für die Seele finden und – analog zur Natur – mitunter auch eine ganz neue Weite, auch die des Glaubens, entdecken.

In den Ferien offener für spirituelle Fragestellungen

Sein vielfältiges Angebot, zu dem neben dem "Einklang in den Tag" am Morgen, dem Mittagsgebet und der täglichen Eucharistiefeier auch geistliche Vorträge, Teestunden, Filmabende, Bibliodrama-Veranstaltungen, das sonntägliche Kirchencafé, Familienmessen, spirituelle Spaziergänge und natürlich die Sakramentenspendung zählen, betrachtet der Inselseelsorger als Geschenk an alle, die dafür offen sind. Aber auch an die, die mitunter eher nur zufällig vorbeischauen. "Manche gehen dann wieder mit einem Schmunzeln im Herzen, nehmen für sich aber trotzdem etwas mit", beobachtet Schlotmann, der unter Umständen auch bis zu fünf Einzelgespräche am Tag führt. "Für viele sind die Ferien die wichtigste Zeit im Jahr. Das heißt, sie sind auch offener, gesprächsbereiter, fühlen sich freier, öffnen sich Neuem und können sich – anders als sonst – auf spirituelle Fragestellungen einlassen." Es gehe um die Freude am Glauben. "Während ihres Urlaubs entdecken Menschen bei uns, dass dieser Gott Leben schenkt und dass sie einmal nur sein dürfen, ohne gleich etwas leisten zu müssen."

Das ganze Jahr über steht das Gemeindehaus offen

Bis zu 10.000 Urlauber halten sich in den Sommerwochen pro Tag auf der Insel auf. Und auch zu Weihnachten, Silvester und Ostern kommen viele vom Festland mal eben rüber für die Feiertage. Das Bild der Gezeiten – der ewige Rhythmus vom Kommen und Gehen, Anschwellen und Abklingen, Ebbe und Flut – lässt sich auch auf das alltägliche Leben übertragen. Da braucht es nicht viel, und in den Hunger nach einer spontanen Auszeit zwischendurch mischt sich wie von selbst die Deutung des Daseins auch nach religiösen Parametern.

Die Sehnsucht nach dem Meer, aber auch grundsätzlich nach einem Mehr an Erfahrungen und letztlich geistlichem Erleben treibt die Menschen das ganze Jahr über auf das kleine Eiland, wo sie sich bei der Inselpfarrei und den Impulsen von Schlotmann, die immer auch Hilfestellung bei den Antworten auf die großen Lebensfragen sein wollen, gut aufgehoben fühlen. Dabei stehen die Türen des Begegnungs- und Gemeindehauses Ansgar allen – Teamern wie Urlaubern – jederzeit offen.

Seit über 50 Jahren Mitarbeit von ehrenamtlichen Teams

"Wir wollen – ganz biblisch – Herberge und eine einladende und wertschätzende Seelsorge anbieten. Dabei geht der Blick immer auf die Menschen und ihre Bedürfnisse. Denn von ihnen wollen wir lernen und religiöse Begegnung ermöglichen." Urlaub sei immer auch eine Form der Sinnsuche. "Deshalb wollen wir als Gemeinde, als Kirche hier sein, um den Menschen Halt und pastorale Wegbegleitung zu bieten. Unsere Seelsorge will sie dazu anstiften, sich selbst zu finden und die Beziehung zu ihren Mitmenschen, zur Umwelt, zur Schöpfung und zu Gott in eine Balance zu bringen."

Dass Pfarrer Schlotmann bei diesem Vorsatz viele Laien unterstützen, hat auf der Insel Tradition. "Außerdem könnte ich dieses Pensum alleine überhaupt nicht bewältigen", räumt er ein. Seit über 50 Jahren lebt die Inselseelsorge von Ehrenamtlichen, die sich für die Mitarbeit in einem der Teams bewerben und dafür auf ihren Urlaub verzichten. Wichtig ist, dass sie selbst Ideen einbringen, denn Kreativität ist eine wichtige Voraussetzung für diese Art der Mitgestaltung. Bereits Wochen, bevor es losgeht, planen die Teams ihren Einsatz von zuhause aus und kommen dann mit einem fertigen Programm auf die Insel. Manche wie Anke Bartel sind schon seit vielen Jahren mit dabei. Die 58-Jährige findet für sich in der Kirche auf Wangerooge etwas, was sie zuhause nicht hat.

"Die Menschen wollen berührt werden"

"Im Team gibt es von morgens bis abends zu tun, trotzdem ist das für mich nicht Arbeit, eher etwas ganz Besonderes, hier mitmachen zu dürfen. Schließlich ist es auch eine Plattform, um mal etwas auszuprobieren", erklärt die Oberstudienrätin aus Limburg. "Man ist rund um die Uhr mit Menschen zusammen, die dasselbe wollen. Dieses Gemeinschaftserlebnis ist belebend, der gemeinsame Glaube eine Selbstverständlichkeit. Als Glaubende sollten wir eine einzige große Familie in dem einen Geist sein. Hier leben wir das mit allen Generationen im Kleinen." Die Menschen, die kämen, hätten eine große Sehnsucht nach Stille, Ruhe und bewusstem Leben, aber vor allem danach, berührt zu werden und dem Oberflächlichen ihres Alltags vorübergehend zu entkommen. Aber nicht alle hätten dennoch immer gleich etwas mit Kirche im Sinn.

"Daraus lässt sich für unser Programm ganz viel ableiten", findet Bartel, die selbst für die Musik in den Gottesdiensten verantwortlich zeichnet und an ihren Mitstreitern mag, dass alle eine andere Begabung einbringen. Das inhaltliche, ökumenisch geprägte Angebot, bei dem für jeden etwas dabei sei, laufe auf hohem Niveau, sagt sie und gebraucht dafür gerne das Bild eines Puzzles. "Jeder steuert ein einzelnes Teilchen bei, das sich mit den vielen anderen Charismen am Ende zu einem großen Ganzen zusammenfügt. So geben wir unserem Ferienprogramm, aber auch dem Zusammenleben mit den vielen Fremden auf dieser Insel ein konkretes Gesicht."

Beatrice Tomasetti 


Pfarrer Egbert Schlotmann ist auch systemischer Berater und Exerzitienleiter. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Pfarrer Egbert Schlotmann ist auch systemischer Berater und Exerzitienleiter. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Die Urlauberseelsorge liegt Pfarrer Schlotmann am Herzen. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Die Urlauberseelsorge liegt Pfarrer Schlotmann am Herzen. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Die Strandgottesdienste sind bei Groß und Klein beliebt. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Die Strandgottesdienste sind bei Groß und Klein beliebt. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Hannah und Sophie sind beim Strandgottesdienst die Messdienerinnen. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Hannah und Sophie sind beim Strandgottesdienst die Messdienerinnen. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Die Kirche St. Willehad: Treffpunkt für Insulaner und Urlauber. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Die Kirche St. Willehad: Treffpunkt für Insulaner und Urlauber. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Anke Bartel und Gaby Stegmann sind seit vielen Jahren Teil des ehrenamtlichen Teams. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Anke Bartel und Gaby Stegmann sind seit vielen Jahren Teil des ehrenamtlichen Teams. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Am frühen Morgen sind die Strandkörbe noch leer. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Am frühen Morgen sind die Strandkörbe noch leer. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Typisch für eine Nordseeinsel: Ebbe und Flut. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Typisch für eine Nordseeinsel: Ebbe und Flut. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Strandläufer… / © Beatrice Tomasetti (DR)
Strandläufer… / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Von weitem sichtbar und ein typisches Inselsymbol: der Leuchtturm. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Von weitem sichtbar und ein typisches Inselsymbol: der Leuchtturm. / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR