DOMRADIO.DE: Sie haben kürzlich gesagt, Freundschaft könne nicht ausschließlich digital funktionieren. Während Corona geht es aber oft nicht anders. Heißt das, dass es Freundschaften schadet, wenn man sich über längere Zeit nur digital begegnet?
Margot Käßmann (Theologin und ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland): Freundschaften können digital erhalten werden, wenn sie vorher eine gute Substanz hatten. Es ist wissenschaftlich in einer großen Studie erwiesen worden, dass es überhaupt erst 50 gemeinsame Stunden braucht, um vom Bekannten zum Freund oder zur Freundin zu werden. Um beste Freunde zu werden, da brauchen wir 200 Stunden, die wir gemeinsam verbracht haben: analog verbrachte Zeit. Das kann sich dann auch in so einer Zeit bewähren, in der wir uns nur digital per Skype, Facetime, auch WhatsApp, Mail oder sogar per Brief verständigen können. Aber es braucht erst einmal eine Substanz.
DOMRADIO.DE: Hat das digitale Leben unsere Vorstellung von Freundschaft stark beeinflusst?
Käßmann: Ich fürchte ja: Viele Menschen irren sich, wenn sie meinen, sie haben da 500 Freunde bei Facebook. Die können sie eben nicht nachts um zwei Uhr anrufen und die kommen dann vorbei. Sondern Freundschaft braucht Zeit miteinander, Zeit füreinander und auch Freude an der Zeit miteinander. Wenn ich das Gefühl habe "Jetzt muss ich auch noch meine Freundin besuchen", dann stimmt etwas nicht. Man muss schon in diese verbrachte Zeit investieren. Übrigens tun das Frauen wesentlich mehr als Männer. Das zeigt sich daran, dass sie, wenn sie in Rente gehen, einen viel stärkeren und stabileren Freundeskreis haben.
DOMRADIO.DE: Ihr aktuelles Buch "Nur Mut. Die Kraft der Besonnenheit in Zeiten der Krise" beschäftigt sich mit der Bedeutung von Freundschaften in der Corona-Krise. Was für Chancen bietet die Krise denn da?
Käßmann: Ich wollte Mut machen in einer Zeit, in der wir immer auf das halbleere Glas starren und auf das, was alles sehr, sehr schwierig ist. Es hat sich gezeigt, dass Freundschaften sich für viele bewährt haben. Freundinnen und Freunde haben einander angerufen, haben gefragt: "Wie geht's dir? Kann ich dir irgendwie helfen?" Viele haben doch eine große Isolation und Einsamkeit gespürt. Genau da hat sich das bewährt. Wenn man sich gut kennt, wenn man weißt, dass man Vertrauen haben kann, dann kann man eben auch über die eigene Einsamkeit, Gefühle, über Ängste sprechen – vielleicht auch um den Arbeitsplatz, über den Druck in der Familie. Dann ist das ein Netz, das einen in Krisenzeiten trägt.
DOMRADIO.DE: In Ihrem Buch gibt es auch ein Kapitel "Freundschaft und die Bibel". Was lehrt uns denn die Bibel über Freundschaft?
Käßmann: Das war für mich sogar der Anlass, weil ich gesehen habe, dass in der Theologie so wenig über Freundschaft geschrieben worden ist. Dabei ist doch Hiob mit seinen Freunden ein großartiges Beispiel. Die wissen, wie schlecht es ihm geht, kommen von Ferne aus ihren Dörfern angelaufen und sehen, dass es furchtbar um ihn steht. Sie setzen sich einfach zu ihm und schweigen mit ihm: sieben Tage, sieben Nächte. Das finde ich eine schöne Vorstellung, dass Freunde nicht immer gleich eine Lösung haben, sondern auch helfen, Leid zu tragen. Auch Jesus ist jemand, der in freundschaftlichen Beziehungen gelebt hat. Wir könnten statt "Jüngerinnen und Jünger" einfach sagen "Freundinnen und Freunde". Er ist zu Martha, Maria und Lazarus sehr oft ins Haus gegangen. Das wissen wir: Da hat er gegessen, getrunken, mit anderen über Gott und die Welt gesprochen. Das ist ein Leben in Freundschaft.
DOMRADIO.DE: Was raten Sie denen, die in der Corona-Krise einsam sind, weil sie ihre Freunde vermissen?
Käßmann: Wir sollten uns schreiben. Ich finde es sehr schön, wenn Freundinnen und Freunde sich in so einer Zeit einmal die Zeit nehmen, einen Brief zu schreiben: über die Gefühle zueinander zu schreiben und sich so gegenseitig halten. Oder sich in dieser Zeit anzurufen und zu fragen, wie es geht. Oder sich treffen – das habe ich auch gemacht – mit zwei Meter Abstand für einen Spaziergang. Das ging auch und das geht auch. Dann können wir diese Sehnsucht, uns wieder in den Arm zu nehmen, für eine Zeit lang überbrücken.
Das Interview führte Julia Reck.