Dogmatiker würdigt Brüderlichkeit-Dokument

"Herausragende Bedeutung"

Vor fünf Jahren haben Papst Franziskus und Großimam Ahmad al-Tayyeb das "Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen" unterzeichnet. Dazu fand kürzlich in Abu Dhabi ein Kongress statt. Mit dabei war auch der Theologe Dirk Ansorge.

Papst Franziskus und Großscheich Ahmad al-Tayyeb (Ahmed al-Tayyib)unterzeichnen Dokumente einer gemeinsamen Erklärung während eines Treffens in Abu Dhabi. / © Romano Siciliani/ Vatican Media (KNA)
Papst Franziskus und Großscheich Ahmad al-Tayyeb (Ahmed al-Tayyib)unterzeichnen Dokumente einer gemeinsamen Erklärung während eines Treffens in Abu Dhabi. / © Romano Siciliani/ Vatican Media ( KNA )

DOMRADIO.DE: Mit welchen Eindrücken kommen Sie vom Kongress in Abu Dhabi zurück?

Professor Dirk Ansorge, Vorsitzender des Katholisch-Theologischen Fakultätentags (KThF) / © Annika Schmitz (KNA)
Professor Dirk Ansorge, Vorsitzender des Katholisch-Theologischen Fakultätentags (KThF) / © Annika Schmitz ( KNA )

Prof. Dr. Dirk Ansorge (Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen): Der Kongress wurden von PLURIEL durchgeführt, einem internationalen Forschungsnetzwerk zum Islam. Darin sind Einzelpersonen und Forschungsgruppen in Europa und dem Libanon zusammengeschlossen, die sich in Europa, dem Libanon und darüber hinaus wissenschaftlich mit dem Islam befassen.

Entsprechend vielfältig waren die Erfahrungen und Beobachtungen, die bei den mehr als dreißig Vorträgen und Diskussionen in Abu Dhabi zu Wort kamen. Schon in Europa ist der Islam ja ausgesprochen vielgestaltig. Denken Sie an die Muslime in Frankreich oder in Deutschland. In Frankreich haben sie mehrheitlich Wurzeln in Nordafrika; in Deutschland ist der Islam weitgehend türkisch geprägt.

Und dann erst die islamischen Kulturen im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika, Indien, Pakistan oder Indonesien! Entsprechend perspektivenreich sind die Forschungen darüber. Neben Forschern und Forscherinnen aus Europa haben auch viele Kollegen und Kolleginnen aus Nordafrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten an dem Kongress teilgenommen.

Stipendien haben die Teilnahme jüngerer Studierender vor allem aus dem Libanon und Ägypten ermöglicht. Dadurch blieben die Fachleute nicht unter sich. Insgesamt gab es sehr lebhafte und anregende Diskussionen um die verschiedenen Wahrnehmungen des Human-Fraternity-Dokuments in den christlichen Kirchen und muslimischen Gemeinschaften. 

DOMRADIO.DE: Thema des Kongresses war das "Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen", das Papst Franziskus vor fünf Jahren gemeinsam mit Großimam Ahmad al-Tayyeb unterzeichnet hatte. Welche Bedeutung hat das Dokument heute noch für den Interreligiösen Dialog?

Dirk Ansorge

"Es ist das erste Dokument überhaupt, das von hochrangigen Vertretern des Christentums und des Islam gemeinsam unterzeichnet worden ist."

Ansorge: Es ist das erste Dokument überhaupt, das von hochrangigen Vertretern des Christentums und des Islam gemeinsam unterzeichnet worden ist. Zuvor gab es nur einseitige Stellungnahmen. Von christlicher Seite ist besonders an das Konzilsdokument "Nostra Aetate" von 1965 zu erinnern, in dem das Konzil seine Wertschätzung der Muslime ausdrückt.

Von muslimischer Seite her hat es im Jahr 2007 das an "Führer christlicher Kirchen überall" adressierte Dokument zu erinnern. Darin haben 138 muslimische Gelehrte auf die "Regensburger Vorlesung" von Papst Benedikt XVI. reagiert.

Das Dokument über "Menschliche Geschwisterlichkeit für ein friedliches Zusammenleben in der Welt" ist das erste von hochrangigen Vertretern des Christentums gemeinsam unterzeichnete Dokument. Das – unter anderem – betont seine herausragende Bedeutung.

In diesem Sinne kann das Dokument den Dialog zwischen Christen und Muslimen inspirieren – zumal darin wichtige Punkte angesprochen sind, die gemeinsame globale Perspektiven berühren, aber auch Herausforderungen im Alltag. Wie begegnen wir gemeinsam dem Missbrauch von Religionen zur Legitimierung von Gewalt? Wie begegnen wir gemeinsam den ökologischen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit?

Papst Franziskus und Ahmad al-Tayyeb, Großscheich der Al-Azhar-Moschee / © Vatican Media/Romano Siciliani (KNA)
Papst Franziskus und Ahmad al-Tayyeb, Großscheich der Al-Azhar-Moschee / © Vatican Media/Romano Siciliani ( KNA )

DOMRADIO.DE: Woran ist dem Veranstalter, der universitären Forschungsplattform zum Islam "Pluriel" gelegen, diesen Kongress fünf Jahre nach der Unterzeichnung in Abu Dhabi stattfinden zu lassen?

Ansorge: Wenn ein so bedeutender Meilenstein im christlich-islamischen Dialog veröffentlicht wurde, dann ist es naheliegend, nach einer gewissen Zeit danach zu fragen, welche Wirkungen das Dokument hervorgebracht hat. Wie wurde es rezipiert? Welche neuen Herausforderungen haben sich in den vergangenen fünf Jahren ergeben? Welche Themen wurden im Dokument nur gestreift, welche Themen wurden gar nicht erwähnt, welche womöglich absichtsvoll übergangen?

Ich selbst habe beispielsweise einen Vortrag zum Schutz von Orten gehalten, an denen Christen und Muslime beten. Das ist ein Thema, das auf den ersten Blick womöglich nicht ins Auge sticht. Es hat jedoch angesichts von Übergriffen auf Kirchen, Moscheen und Synagogen eine inzwischen weltweite Bedeutung erlangt.

Immer wieder werden beispielsweise im Irak und in Nigeria Kirchen angegriffen und zerstört. Denken Sie auch an den Missbrauch von Kirchen und Moscheen durch die Hamas in ihrem Terror gegen Israel.

Was sagt das Dokument nicht nur über die Freiheit, seine eigene Religion auch in der Öffentlichkeit auszuüben, sondern über Gewissensfreiheit? Erlaubt es, seine Religion zu wechseln? Welchen Stellenwert hat die jeweils andere Religion in den Augen von Muslimen und Christen?

Und nicht zuletzt: Welche Vorstellungen von der Familie oder von der Rolle von Frauen in Beruf und Öffentlichkeit kommen im Dokument zur Sprache? Kann man darin eine Kritik oder womöglich gar eine Überwindung traditioneller, oft patriarchaler Rollenvorstellungen in Islam und Christentum erkennen? Und wenn dem so wäre: Welche rechtlichen Konsequenzen wären damit jeweils verbunden?

Diese Fragen berühren in vielen islamisch geprägten Staaten auch den Rechtsstatus von Christen in der Gesellschaft. Die Unterzeichner des Dokumentes kritisieren den Begriff der "Minderheit" als ungeeignet, die Stellung religiöser Minoritäten zu charakterisieren.

Einen im Jahr 2017 von al-Tayyeb formulierten Vorschlag folgend schlagen sie als Alternative den Begriff der "Staatsbürgerschaft" für Angehörige aller religiösen Gruppierungen vor. Ist das ein für Christen gangbarer Weg zur Gleichberechtigung – besonders in islamisch geprägten Staaten, wo Christen oft besondere Minderheitsrechte genießen?

Das sind einige der Themen, die sich fünf Jahre nach Unterzeichnung des Dokuments aufdrängen, und die wir während des Kongresses debattiert haben.

DOMRADIO.DE: Rechnen Sie langfristig mit Auswirkungen auf den Interreligiösen Dialog – auch in Saudi-Arabien?

Ansorge: Resultate von Erhebungen zur Rezeption des Dokuments, die im Rahmen des Kongresses vorgestellt wurden, waren weitgehend ernüchternd. In der arabischen Welt wurde die Unterzeichnung des Dokuments öffentlich wahrgenommen, ja geradezu gefeiert. Es handelte sich ja um den ersten Besuch eines Papstes auf der Arabischen Halbinsel überhaupt.

Dirk Ansorge

"Das Dokument selbst wurde und wird jedoch in der Region von Muslimen kaum verbreitet. Entsprechend ist es vielen Muslimen unbekannt."

Das Dokument selbst wurde und wird jedoch in der Region von Muslimen kaum verbreitet. Entsprechend ist es vielen Muslimen unbekannt. Das widerspricht entschieden der Absicht der Unterzeichner; denn Papst Franziskus und Großimam al-Tayyeb schreiben ausdrücklich, sie wünschten sich eine breite Rezeption nicht nur auf akademischem Niveau, sondern auch in Schulen und in christlichen und muslimischen Gemeinschaften. Hier wäre noch viel zu tun.

Allerdings ist dabei auch zu berücksichtigen, dass die Stellung des Großimams der Al-Azhar Universität in Kairo mit der des römischen Papstes nicht zu vergleichen ist. Der sunnitische Islam kennt ja keine universal verbindliche Lehrinstanz. Viele Muslime betrachten deshalb die Rolle von At-Tayeb sehr kritisch.

Dass sie durch die gemeinsame Unterzeichnung des Dokuments in Abu Dhabi noch einmal aufgewertet wurde, erleichtert die Rezeption nicht unbedingt. Deshalb ist es auch nicht gerade wahrscheinlich, dass es in naher Zukunft zu einer Intensivierung des Dialogs zwischen Christen und Muslimen in Saudi-Arabien kommt. 

DOMRADIO.DE: Der Islamexperte und Jesuit Felix Körner sagte im Vorfeld des Kongresses, dass er auf absehbare Zeit nicht mit einem Besuch von Papst Franziskus in Saudi-Arabien rechne. Er sehe "im Augenblick keine besondere Freundschaft zwischen Franziskus und einem Gesprächspartner dort". Sehen Sie das ähnlich?

Ansorge: Das Dokument über "Menschliche Geschwisterlichkeit" ist auch die Frucht einer über die Jahre gewachsenen Freundschaft zwischen dem Papst und dem Großimam der Al-Azhar Universität. Anders als andere Dokumente gab es keine jahrelange Vorbereitung.

Natürlich wurde der Wortlaut sorgfältig abgestimmt. Aber es ist zunächst Ausdruck einer persönlichen Freundschaft. Das mindert seinen Wert nicht, verdeutlicht aber, wie wichtig persönliche Beziehungen und Freundschaften zwischen maßgeblichen Personen nicht nur in der Politik, sondern auch in den Religionsgemeinschaften sind.

Dirk Ansorge

"Genau dazu aber will das Dokument anstiften: dass es einer erneuerten Beziehung der Freundschaft zwischen Christen und Muslimen bedarf."

Genau dazu aber will das Dokument anstiften: dass es einer erneuerten Beziehung der Freundschaft zwischen Christen und Muslimen bedarf. Das gilt im Übrigen nicht nur für das Christentum und den Islam. Nur so können die Religionen dazu beitragen, die eingangs erwähnten globalen Herausforderungen zu bewältigen.

Ähnlich wie mein Kollege Körner nehme ich persönliche Beziehungen des Papstes mit hochrangigen Religionsvertretern in Saudi-Arabien derzeit nicht wahr. Insofern rechne auch ich nicht mit dem zeitnahen Besuch eines Papstes in Saudi-Arabien. Aber es gibt ja auch andere Regionen in der Welt, wo der Dialog zwischen Christen und Muslimen zu intensivieren wäre.

Zeitgleich mit unserem Kongress hat eine Indonesische Islamische Organisation den anlässlich der Unterzeichnung des Dokuments vor fünf Jahren gestifteten "Zayed Award for Human Fraternity" erhalten. Vielleicht ist die Bereitschaft zum Dialog mit Christen derzeit andernorts größer als in Saudi-Arabien. Notwendig wäre ein solcher Dialog allemal.

Dabei gilt: Das Gespräch führen nicht Religionen miteinander, sondern konkrete Menschen, die sich religiös verpflichtet fühlen und die gerade deshalb aufeinander zugehen und auf diese Weise womöglich Freundschaft schließen. Eben dazu wollten der Papst und der Großimam vor fünf Jahren ermutigen. Und angesichts damals kaum absehbarer Konflikte in der Welt scheint diese Ermutigung heute wichtiger denn je zu sein.

Die Fragen stellte Jan Hendrik Stens.

Hintergrund: Dokument zur "Brüderlichkeit aller Menschen"

Papst Franziskus hat im Februar 2019 als erster Papst die Arabische Halbinsel besucht. Unter anderem traf er den Großimam und Rektor der Kairoer Al-Azhar-Universität Ahmad Mohammad al-Tayyeb, einen der angesehensten Gelehrten des sunnitischen Islam.

Papst Franziskus und Großimam Ahmed Mohammed al-Tayyeb (Archiv) / © Cristian Gennari/Romano Siciliani (KNA)
Papst Franziskus und Großimam Ahmed Mohammed al-Tayyeb (Archiv) / © Cristian Gennari/Romano Siciliani ( KNA )
Quelle:
DR