DOMRADIO.DE: Monsignore Kleine, als „Feldhillije“ – übersetzt: Regimentspfarrer – der Altstädter geht es für Sie nun in die heiße Phase des Karnevals. Der Höhepunkt: Sie werden wie in jedem Jahr auf dem Rosenmontagszug mit dabei sein. Was aber macht eigentlich ein Domseelsorger – Mitbrüder von Ihnen sind bei der Ehren- oder der Prinzengarde, bei Jan von Werth, den Roten oder Blauen Funken – bei einem solchen Traditionskorps?
Monsignore Robert Kleine (Kölner Dom- und Stadtdechant): Das, was ich sonst auch mache: Ich spende Sakramente, taufe, traue und beerdige. Und was ich besonders beeindruckend finde, ich führe hier mehr noch als im Dom viele Gespräche über Gott und die Welt. Das sind ausgesprochen fruchtbare Begegnungen. Die Menschen, die ich in diesem Kontext treffe, haben immer wieder Fragen oder persönliche Anliegen.
Als Karnevalist bin ich einer von ihnen, das senkt automatisch auch die Hemmschwelle zur Kirche. Schließlich sind die Altstädter ja keine katholische oder kirchliche Gesellschaft, sondern bilden das gesamte gesellschaftliche Spektrum ab. Aber sie möchten eben auch einen Priester in ihren Reihen, und das ist der Domdechant.
Sehr bewusst wollen sie damit ihre Verbundenheit mit unserem Dom zum Ausdruck bringen. Von daher ist es mir Ehre und Freude zugleich, „Feldhillije“ zu sein. Ich bin nun mal mit dem Karnevalsbazillus infiziert, aber zum Glück ist das ja ein positives Virus. Kirche, Köln, Karneval – das ist für mich ein Dreiklang.
DOMRADIO.DE: Für diejenigen, die nicht ganz so infiziert sind – was bedeutet eigentlich „Traditionskorps“?
Kleine: Die Altstädter Köln 1922 e. V. sind eines von insgesamt zehn Traditionskorps im Kölner Karneval und haben im vergangenen Jahr ihr 100-Jähriges gefeiert – mit einer Fahrt nach Rom inklusive einer Papst-Audienz. Die Gesellschaft ging nach dem Ersten Weltkrieg aus einem 1905 gegründeten Stammtisch von Nachbarn aus dem Waidmarktviertel der Kölner Altstadt hervor. 1919 wurde er zu einem Kegelclub.
Hieraus entstanden dann formal im März 1922 die „Fidelen Altstädter“ mit dem Zweck „zur Wahrung der Tradition und Überlieferung des artechten, volksnahen Kölner Karnevals, vor allem der Pflege des Kölner Brauchtums, des typisch Kölnischen Humors und Witzes und der Kölner Mund- und Eigenart innerhalb des hergebrachten, historischen Kölner Fastnachtsfestes“. So steht es in der Gründungsurkunde.
Während das Tanzkorps der Altstädter die Tradition des kurkölnischen Landregiments wahrt, führt das Reiterkorps seine Wurzeln auf die Grünen Dragoner der Kurfürsten Joseph Clemens und Clemens August im 18. Jahrhundert zurück, die im Spanischen Erbfolgekrieg auf Seiten der Franzosen kämpften. Die Uniform – die ich mit Stolz trage und von der viele sagen, dass sie natürlich die schönste ist – das mitgeführte Holzgewehr der Gardisten und der auf der Bühne zur Schau gestellte militärische Drill sind aber eine Persiflage des Militärischen.
Das gilt für alle Traditionskorps, in denen es auch eine typisch militärische Rangordnung gibt. Im Rückblick muss ich sagen: Zwischen den Altstädtern, denen ich nun seit über zehn Jahren angehöre, und mir stimmte auf Anhieb die Chemie.
DOMRADIO.DE: Wie erklären Sie sich diese enge Verbindung von Karneval und Kirche in Köln?
Kleine: Der Bezug zur Kirche gehört zur DNA des Kölner Karnevals – auch weil es ja ohne den Aschermittwoch und das Kirchenjahr überhaupt gar keinen Karneval gäbe. In dieser Session feiern wir 200 Jahre Festkomitee Kölner Karneval und damit 200 Jahre „organisierten“ Frohsinn. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist überall in den Gemeinden wieder der Pfarrkarneval ins Leben gerufen worden.
Zwei Dompröpsten wurde bisher der „Orden wider den tierischen Ernst“ verliehen. Nicht von ungefähr wird Köln die Hochburg des rheinischen Karnevals genannt, und nicht von ungefähr spielt die Kirche – symbolisiert durch unseren prächtigen Dom, der in vielen kölschen Karnevalsliedern besungen wird – dabei eben auch eine ganz entscheidende Rolle.
DOMRADIO.DE: Als gebürtiger Neusser, der eigentlich mit den Schützen groß geworden ist, lag für Sie persönlich diese heute so selbstverständliche Allianz ja gar nicht unbedingt nahe…
Kleine (lacht): Natürlich schlägt mein Herz immer noch für die heimischen Schützen. Aber als ich 1997 Domvikar und Schulseelsorger an der Kölner Domsingschule wurde, bin ich direkt im ersten Jahr mit den Klassen und dem Kollegium bei den „Schull- und Veedelszöch“ mitgegangen und habe im wahrsten Sinne des Wortes „Kamelle geleckt“. Der bunte Zug in selbstgebastelten Kostümen mit den fröhlichen Pänz und ihren Eltern, das war schon ein einmaliges Erlebnis. Und bis 2004 war ich bei jedem Zug dabei!
Als ich dann ins Erzbischöfliche Generalvikariat wechselte, trugen mir die „Kölsche Grielächer“, eine kleine Familiengesellschaft, die Mitgliedschaft an, meine erste in einer Kölner Karnevalsgesellschaft. Bei den Grielächern besuche ich bis heute in Uniform mit vielen Freuden die „Miljöhsitzung“. Gemeinschaftliche Unternehmungen und vor allem auch soziales Engagement, das im Karneval groß geschrieben wird, gehörten für mich von Anfang an dazu.
DOMRADIO.DE: Ihre Nähe zum Dom bringt aber darüber hinaus noch andere, höchst angenehme „Pflichten“ mit sich…
Kleine: In der Tat. Es gehört zur guten Gewohnheit, dass ich am Samstag nach dem 11.11. die sogenannte Regimentsmesse für die Altstädter im Dom feiere: Dabei entzünden wir für das Gelingen der Session eine Kerze, und mit den Klängen des Spielmannszugs ziehen wir nach dem Schlusssegen zum Dreikönigenschrein. Dieser Gottesdienst ist einmal mehr eine gute Gelegenheit zu vermitteln, wofür unser Glaube steht. Dasselbe gilt für den Ökumenischen Gottesdienst mit den Karnevalisten Anfang Januar, bei dem sich das Dreigestirn den kirchlichen Segen im Dom erbittet.
Im Übrigen fängt für mich persönlich die Karnevalssession auch dann erst an – und nicht am 11.11.. Erst nach Dreikönige besuche ich die ersten Sitzungen, gerne auch verkleidet. Karneval ist für mich eine Unterbrechung des Alltags; eine Zeit, in der ich mich mit anderen treffe und lachen kann. Daran habe ich große Freude.
Wichtig ist, dass Karneval etwas von Hofnarrentum hat, man sich gegenseitig auch schon mal den Spiegel vorhält und ungeschminkt die Meinung sagen und natürlich auch Kirchenkritik üben kann. Aber das darf meines Erachtens nicht unter die Gürtellinie des Glaubens gehen, das heißt, das, was anderen heilig ist, nicht lächerlich zu machen.
DOMRADIO.DE: Sie haben Mitbrüder, die gehen zum Lachen in den Keller, auch weil die vielleicht finden, dass es in der Kirche gerade nichts zu lachen gibt. Warum ist Ihnen persönlich die „fünfte Jahreszeit“ so wichtig?
Kleine: Wir brauchen solche Zeiten des Zusammenkommens und miteinander froh Seins, um uns dann wieder den Anforderungen des Alltags zu stellen. Wie eindrucksvoll war doch die Friedensdemo am Rosenmontag im vergangenen Jahr, als wenige Tage zuvor die Russen gerade die Ukraine angegriffen hatten und Zigtausende gegen den Krieg und für den Frieden auf die Straße gingen.
Auch solche Zeichen der Solidarität gehören zum Karneval dazu. So ein Spagat ist eben möglich: Wir stellen uns in unseren bunten Kostümen auf und protestieren im selben Moment gegen großes Unrecht, lassen uns gleichzeitig aber von einem Diktator das Lachen nicht verbieten. Das gehört zu dem, was wir in unserem Land, aber eben auch in Köln unter Freiheit verstehen.
DOMRADIO.DE: So etwas sind vermutlich Sternstunden des Kölner Karnevals…
Kleine: Absolut. Mit den Motto-Wagen des Rosenmontagszugs, aber auch auf den Sitzungen werden ernste Themen heiter aufgegriffen und die Mächtigen mitunter ausgelacht. So hat Karneval auch etwas Reinigendes. Von Berufs wegen bin ich das ganze Jahr Optimist und demonstriere 365 Tage meine Zuversicht und Freude. Da kommen meinem Naturell diese ausgelassenen Tage, bei denen es ja nicht um Besäufnisse, sondern ein ausgewogenes Maß an Witz und Humor geht, sehr entgegen.
Es geht darum, selbst Freude zu zeigen und andere zum Lachen zu bringen. Für ausgelassene Stimmung strengen sich die Büttenredner, Clowns und Komiker, die mit richtig viel Herzblut auftreten, in den Sitzungen ja auch mächtig an. Mich ärgert, wenn Karneval manchmal als oberflächlicher Spaß abgetan wird. Denn das ist er seinem Wesen nach eigentlich nicht. Gute Pointen können sehr tiefsinnig sein. Und man spürt einfach, ob Freude echt oder nur aufgesetzt ist.
Für mich sind die vielen, vielen Begegnungen im Karneval immer ein Gewinn. Natürlich gehört zum Karneval auch der Blödsinn, wie ihn ein „Blötschkopp“ oder der „Sitzungspräsident“ herrlich präsentieren. Aber am Aschermittwoch ist es dann eben auch vorbei. „Jeck im Sunnesching“ mitten im Sommer ist nichts für mich.
DOMRADIO.DE: Nun gibt es zu allen Zeiten genügend Gründe, gerade nicht ausgelassen zu feiern – Stichwort Krieg und Erdbeben. Beides lässt sich nicht einfach wegschunkeln. Wie kann man dennoch beides zusammenbekommen, ohne dass es kaltherzig oder rücksichtslos wirkt?
Kleine: Im letzten Jahr lautete das Sessionsmotto „Alles hät sing Zick“ – ein Wort, das ursprünglich aus dem Buch Kohelet im Alten Testament stammt und die Aufeinanderfolge von Realitäten bzw. das Nebeneinander von Gegensätzen sehr treffend benennt. Da steht unter anderem: Es gibt eine Zeit zu weinen und zu lachen, eine zu klagen und eine zu tanzen. Diese Widersprüche müssen wir in unserem Leben doch eigentlich immer aushalten, auch in diesem Jahr wieder, wenn wir das Leid der Menschen in der Türkei, in Syrien, in der Ukraine und in so vielen Ländern der Welt sehen und nicht ausblenden.
Der Karneval verleugnet nicht die Realität. Im Gegenteil: Er benennt ganz klar auch Schuld und Versagen und zeigt schonungslos auf den oder die Täter. Das kommt mitunter sehr drastisch zur Sprache, wenn ich da an den diesjährigen Rosenmontagswagen mit dem Bruderkuss zwischen Putin und dem Teufel denke. Trotzdem dürfen wir – wie gesagt – nicht zulassen, dass uns dieser Despot, der die Welt in ein abgrundtiefes Unglück gestürzt hat, das Lachen verbietet.
DOMRADIO.DE: Gerade der Rosenmontagszug ist ja eine einzige Demonstration, dass Karneval auch eine sehr ernste Seite hat, sich niemand wirklich raushalten kann. Ganz im Gegenteil: klar Position gegen Ungerechtigkeit oder Missstände zu beziehen, macht ja auch Teil seines Selbstverständnisses aus…
Kleine: Natürlich. Es sind gerade auch die Karnevalsvereine, die jetzt ganz aktuell für die Erdbebenopfer Solidaritätsaktionen initiieren, aber auch für die Flutopfer 2021 oder für die Ukraine-Flüchtlinge im letzten Jahr Hilfen und Spenden organisiert haben. Und trotz der Realität dieses Leids haken wir uns unter, umarmen einander und schunkeln, vergessen aber auch den anderen nicht. Es gibt eine Zeit des miteinander Feierns – gerade jetzt an den tollen Tagen – aber es gibt immer auch die Zeit der Solidarität und Nächstenliebe. Das ist kein „entweder oder“, beides steht gleichzeitig nebeneinander und gehört zu uns Menschen dazu.
Das bedeutet, dass wir auch in unseren Karnevalsgottesdiensten, aber auch in den Sitzungen an die Menschen denken, denen gerade überhaupt nicht nach Lachen zumute ist, sondern die um ihr Überleben kämpfen. Karneval wird ja nie in einer Blase gefeiert – die Not ist ja immer da – und deshalb sind wir auch in unserer Solidarität sehr gefordert, um gegen das Leid der anderen anzukämpfen. Jeder einzelne.
Aber wenn ich darum weiß, kann ich eben in diesem Bewusstsein und mit großer Dankbarkeit, dass es mir selbst gut geht, auch meinen Alltag einmal für kurze Zeit unterbrechen, mir eine Auszeit nehmen und Freude am Geselligen haben.
Karneval bedeutet nicht, alles um mich herum zu vergessen. Den echten Jecken zeichnet ja gerade aus, dass er Haltung zeigt, Verantwortung und Empathie. Nur wenn wir trotz Feierns den Nächsten und seine Not im Blick behalten und auch das Nötige tun, um dessen Leben ein wenig zu verbessern, wird es in unserer Welt insgesamt ein bisschen heller und friedlicher.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.