Domkapellmeister hält Beethovens "Neunte" für hochaktuell

"Weltumspannender Aspekt war ihm wichtig"

Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie ist eine Legende. Vor 200 Jahren wurde sie uraufgeführt. Die "Ode an die Freude“ ist nun sogar die Europahymne. Religion und Europa waren dem Komponisten wichtig, sagt der Freiburger Domkapellmeister.

Büste aus Bronze von Ludwig van Beethoven im Garten in Beethovens Geburtshaus / © Jörg Loeffke (KNA)
Büste aus Bronze von Ludwig van Beethoven im Garten in Beethovens Geburtshaus / © Jörg Loeffke ( KNA )

DOMRADIO.DE: Vor genau 200 Jahren wurde Beethovens 9. Sinfonie uraufgeführt. Das Besondere an dem Werk war, dass am Schluss auch Gesang hinzukam. Beethoven hat Schillers Gedicht "Ode an die Freude" vertont. "Freude schöner Götterfunken", heißt es da. Welche Rolle spielt die Religion im Gedicht Schillers und in der Musik Beethovens? 

Aufgeschlagene "Handschrift der Sinfonie Nr. 9 des Komponisten L. van Beethoven" / © Soeren Stache (dpa)
Aufgeschlagene "Handschrift der Sinfonie Nr. 9 des Komponisten L. van Beethoven" / © Soeren Stache ( dpa )

Prof. Boris Böhmann (Domkapellmeister am Freiburger Münster und Lehrbeauftragter für Kirchenmusik an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg): Schon in dem Gedicht, beziehungsweise Schiller nennt es "Ode an die Freude", ist diese zweifache Richtung vorgegeben. Wir haben am Anfang eine Art Refrain, "Freude schöner Götterfunken". Es heißt: "Feuertrunken", "Himmlische dein Heiligtum", "Tochter aus Elysium". Da kommen eher antike Vorstellungen zum Tragen. 

In der nächsten Strophe dagegen, die von Schiller sogar mit Chor überschrieben ist, heißt es auf einmal, "muss ein lieber Vater wohnen". Da kommt dieser christliche Aspekt zum Ausdruck: Gottvater, der über dem Sternenzelt wohnt. 

Boris Böhmann

"Wobei ich dazu tendiere, dass in dem Gedicht durch die Begriffe Freude und Freundschaft schon vorgezeichnet ist, dass wir es nach heutiger dogmatischer Sicht mit den Früchten des Heiligen Geistes zu tun haben".

Insofern haben wir da zwei verschiedene religiöse Ansichten oder Denkmodelle, wobei ich dazu tendiere, dass in dem Gedicht durch die Begriffe Freude und Freundschaft schon vorgezeichnet ist, dass wir es nach heutiger dogmatischer Sicht mit den Früchten des Heiligen Geistes zu tun haben. Es geht also um die dritte göttliche Person, die hier auf Erden in Form von Freude und Freundschaft mit anderen Menschen bis hin zur Ehe das göttliche Wirken tatkräftig umsetzt.

DOMRADIO.DE: Ludwig van Beethoven kam aus Bonn. Er war gut katholisch. War er auch ein religiöser Mensch und Künstler? 

Böhmann: Ich denke schon. Er hat schon in seiner Jugendzeit während seines Unterrichts bei dem Hoforganisten Christian Gottlob Neefe in Bonn starke Kontakte mit der Liturgie am Bonner Hof gehabt, wo der Kölner Fürstbischof residiert hatte. Er hat täglich mit den liturgischen, auch lateinischen Texten zu tun gehabt und hat sich auch später intensiv mit dem Messtext beschäftigt, in Form der C-Dur Messe und natürlich mit der großen "Missa solemnis". 

Ich würde ihn schon als gläubigen Menschen bezeichnen, wobei das bei Beethoven immer ein bisschen in das Subjektive geht. Es geht ihm um die subjektive Auslegung der Texte, des Messetextes und um ein persönliches Gottesverhältnis. Das sehe ich in der Breite bei Mozart und Haydn nicht so stark. Die komponierten eher für die ganze Christenheit und eine gewisse Versammlung von Gemeinde. Bei Beethoven hat es auch immer etwas Individuelles.

Beethoven Denkmal in Bonn / © TalyaPhoto (shutterstock)
Beethoven Denkmal in Bonn / © TalyaPhoto ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Welche Stellung hat die 9. Sinfonie im Lebenswerk Beethovens?

Böhmann: Ich denke schon allein, dass er in den letzten Satz die Vokalstimmen mit hinein nahm, wusste er, dass er etwas sehr Großes schafft. Zumal er zu diesem Zeitpunkt völlig taub war. 

Die Suche nach einer Verbindung zu anderen Menschen wurde in der Zeit noch eindringlicher, in der er schwerhörig und taub wurde und wo er durch seine gesundheitliche Beeinträchtigung einfach von den anderen Mitmenschen absentiert wurde. Auch geheiratet hat Beethoven nicht, obwohl er gesucht hatte.

Boris Böhmann

"Diese Anlage des Gedichtes im letzten Satz der Symphonie drückt ganz viel von seinem Inneren, von seiner inneren Sehnsucht aus, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen und Freundschaft zu schließen."

Diese Anlage des Gedichtes im letzten Satz der Sinfonie drückt ganz viel von seinem Inneren, von seiner inneren Sehnsucht aus, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen und Freundschaft zu schließen.

DOMRADIO.DE: Die 9. Sinfonie ist sehr bekannt. Woran liegt das?

Böhmann: Es hat etwas Euphorisierendes, wenn nach einem dreisätzigen sinfonischen Werk, was an sich schon sehr ausgedehnt ist, noch die Vokalstimmen dazukommen und die menschliche Stimme für die Allgemeinheit in Form von Solisten und Chorsängern hörbar macht.

Dazu kommt auch die exponierte Lage. Das Stück ist einfach sehr schwierig zu singen. Es liegt sehr hoch für alle Stimmen, es ist massiv. Man muss sich gegen einen großen Orchesterapparat durchsetzen. 

Die Melodie "Freude schöner Götterfunken" hingegen ist sehr eingängig. Das kann jedes Kind sofort nachsingen oder nachpfeifen. Trotzdem hat die Sinfonie eine ungeheuer kunstvolle Verarbeitung in Form von Kontrapunktik und verschiedenen Stimmkombinationen in dieser Komposition erfahren. 

Dieser europäische oder weltumspannende Aspekt war für Beethoven wichtig. Wir waren in der Nachkriegszeit, nach den Napoleonischen Kriegen, wo sich die europäischen Länder gegen die napoleonischen Truppen verbündet haben und dort ein gemeinsames, Kriegs- oder Schlachtenerlebnis gehabt haben.

DOMRADIO.DE: Was hätte er wohl gedacht, wenn er gewusst hätte, dass dieses Werk einmal Europahymne wird?

Böhmann: Das hätte ihm sehr gut gefallen, weil das schon damals eine Situation war, die ganz Europa betroffen hat. Er komponierte ein Stück, was noch zu seinen Lebzeiten sein größter Erfolg war: Die Schlachtensinfonie "Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria". Darin ging es um den Sieg der europäischen Alliierten gegen Napoleon. Diesen Gedanken hat er darin aufgegriffen. 

Boris Böhmann

" Ich denke, das hätte ihm sehr gut gefallen, dass seine Komposition die freien europäischen Länder vereinigt."

Es ging um Freiheit, um Überwindung einer Unterjochung unter einem Diktator. Das sind Begriffe, die heute für die europäischen Demokratien absolut virulent sind, wenn ich mir die Situation im Moment anschaue. Ich denke, das hätte ihm sehr gut gefallen, dass seine Komposition die freien europäischen Länder vereinigt.

Das Interview führte Tobias Fricke. 

9. Sinfonie von Beethoven

Die neunte Sinfonie gilt als Höhepunkt des kompositorischen Schaffens von Ludwig van Beethoven. Entstanden zwischen 1822 und 1824 – wenige Jahre vor seinem Tod – hat sie mit dem grandiosen Chorfinale von Schillers "Ode an die Freude" die Musikgeschichte nachhaltig beeinflusst. Denn erstmalig setzte Beethoven in einer Sinfonie die menschliche Stimme als Instrument ein. Er selbst konnte die Vollendung seines vermutlich berühmtesten Werkes allerdings nicht mehr hören.

Ludwig van Beethoven (1770-1827) / © Everett Historical (shutterstock)
Ludwig van Beethoven (1770-1827) / © Everett Historical ( shutterstock )
Quelle:
DR