Domkapitular von Leicester zum "Brexit"-Referendum

"Spiele am Sonntag die Europahymne"

EU-Verbleib oder EU-Austritt? Großbritannien stimmt über seine europäische Zukunft ab. Egal wie es ausgeht, der Domkapitular und Musikverantwortliche am Dom von Leicester wird am Sonntag die Europahymne spielen, wie er domradio.de verriet.

Quo vadis, Großbritannien? / © Maurizio Gambarini (dpa)
Quo vadis, Großbritannien? / © Maurizio Gambarini ( dpa )

domradio.de: Was bedeutet die Abstimmung für die Menschen in Ihrer Gemeinde?

Dr. Johannes Arens (Anglikanischer Domkapitular am Dom von Leicester): Die Diskussion hat die Leute doch sehr gespalten. Das ist eine hochemotionale Diskussion. Es geht ja fast nicht mehr um rationale Fragen. In meiner Beobachtung geht es in erster Linie hauptsächlich um Nostalgie. Die Menschen wünschen sich, dass England wieder so ist wie früher und dass das Leben wieder überschaubar ist. Es wird geträumt, dass die Dinge wieder einfacher sind. Das alles ist der Vorstellung geschuldet, dass die Dinge früher einfacher und besser waren, was allerdings gar nicht der Fall war. Das trennt teilweise Familien, distanziert Freundschaften und ist für alle Leute ein schwieriges Thema.

domradio.de: Sie kriegen das auch in Einzelgesprächen mit Gemeindemitgliedern mit und merken auch, dass die Diskussion hoch emotional geführt wird. Die Argumente für die EU werden klein gehalten, Dinge werden negativ dargestellt, was Sie als Deutschen vielleicht verwundern könnte. Und die andere Seite?

Arens: Diejenigen, die für den Austritt aus der EU stimmen, haben eine Phrase, die sehr viele anspricht: "Take back control", also frei übersetzt, man wolle wieder Herr im eigenen Hause sein. Es fühlt sich komplett anders an als in Deutschland. Ich komme aus dem westlichen Rheinland, dem Grenzgebiet, wo die EU einen täglichen Unterschied in einem gewissen Gegengewicht zu Berlin macht und wo es keinen großen Unterschied macht, ob man mal eben nach Maastricht zum Einkaufen fährt. Hier sind wir auf einer Insel. Da fühlt sich das ganz anders an.

domradio.de: Kommt das Thema in den Predigten bei Ihnen in der Kirche vor?

Arens: Es kam sehr deutlich in meiner Predigt am letzten Sonntag vor, weil ich dann doch irgendwann sagen musste, dass es mir jetzt reicht. Ich bin deutscher Staatsbürger und wohne seit 15 Jahren in England. Teilweise hat sich die Kampagne der UK-Partei gegen Arbeitssuchende aus dem EU-Binnenmarkt gerichtet. Nach dem Motto: Unser Arbeitsplatz ist in Gefahr, es gibt zig Millionen Leute in Polen, in Albanien und der Türkei, die alle eure Arbeitsplätze wegnehmen wollen. Das war der Punkt, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Es gab ein Plakat, was momentan die Gerichte beschäftigt, weil es rassistisch ist, da es eine große Zahl von Leuten zeigt, die an der Grenze stehen und alle braunhäutig sind. Unter dem Plakat steht der Schriftzug "Wir sind voll." Da habe ich dann doch sehr deutliche Sachen gesagt - auch als Deutscher und als deutscher Immigrant hier. Da kommt ein falscher Nationalismus hoch.

domradio.de: Haben Sie denn auch bei Ihnen in der Gemeinde in Leicester zu Info-Veranstaltungen zum Thema Brexit eingeladen?

Arens: Wir haben das aufgegriffen, indem wir eine Abendveranstaltung mit einer Parlamentarierin und einer Diskussion gemacht haben. Das war relativ gut besucht, aber nicht wahnsinnig voll. Ich weiß gar nicht, ob sich so viele Leute rational intensiv mit diesem Thema beschäftigen. Ob sie sich mit den wirtschaftlichen und ethischen Fragen, die dahinter stehen, auseinandersetzen.

domradio.de: Das kann man sich kaum vorstellen.

Arens: Was mich immens erstaunt, gerade als Rheinländer, ist, dass die politische Dimension so unglaublich kurz kommt. Dass kaum gesehen wird, dass die EU der Friedensgarant in den letzten Jahrzehnten war. Das ist für Engländer eine völlig fremde Vorstellung. Obwohl mittlerweile einige mit Blick auf Russland und die Ukraine einsehen, dass wir die EU brauchen. Aber das ist ein Thema, das meines Erachtens hier viel zu kurz kam.

domradio.de: Wie positioniert sich denn eigentlich ihre anglikanische Kirche in der Sache?

Arens: Die Kirche versucht natürlich einerseits, unpolitisch zu sein, andererseits sagt sie doch sehr deutlich  etwas, z.B. über die Diabolisierung von Einwanderern. Die Diskussion ist in den letzten beiden Wochen eindeutig in eine sehr ausländerfeindliche Stimmung abgeglitten. Der Erzbischof hat sich sehr deutlich dazu geäußert und betont, dass das so nicht geht und dass diese Debatte nicht mehr dem Niveau des politischen Diskurses in diesem Land entspricht. Es geht nicht an, dass man Ausländer dämonisiert.

domradio.de: Gesetzt den Fall, dass die Briten für einen Verbleib in der EU stimmen – machen Sie dann ein Gemeindefest?

Arens: Ich plane kein Pfarrfest, aber ich bin für die Musik zuständig. Ich darf mich ja nicht wirklich politisch äußern, aber am Sonntag ist das erste Kirchenlied die Ode an die Freude. Weil das die europäische Hymne ist. Dazu gibt es einen englischen Text als Kirchenlied. Wer Augen hat, zu sehen, der sehe. Und wer Ohren hat, zu hören, der höre. Das wird sehr deutlich sein, wenn der Gottesdienst am Sonntag anfängt.

Das Interview führte Sylvia Ochlast.


Dr. Johannes Arens / © leicestercathedral.org
Dr. Johannes Arens / © leicestercathedral.org
Quelle:
DR