Sorge über Russland-Aufmarsch an ukrainischer Grenze

Drohkulisse mit Säbelrasseln

Russland hat jüngst 100.000 Soldaten an die ukrainische Grenze geschickt. Das ist der größte Militäraufmarsch entlang der Konfliktlinie. Caritas International beobachtet die Entwicklung mit großer Sorge und hofft auf Besonnenheit der Akteure.

Ukraine-Konflikt / © ART_Photo_DN (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Droht an der ukrainisch-russischen Grenze ein Krieg oder ist der Militäraufmarsch nur ein russisches Säbelrasseln?

Simon Schlegel (Caritas International in der Ukraine): Ich schätze, dass es wahrscheinlich nicht zu einem großen Krieg kommt, der zu starken Verschiebungen an der Kontaktlinie führen würde. Ich glaube, Russland hat dafür zu große Kosten zu befürchten. Sehr wahrscheinlich geht es darum, eine Drohkulisse aufzubauen, um die Ukraine und auch die westlichen Verbündeten der Ukraine am Verhandlungstisch zu mehr Zugeständnissen bringen zu können.

DOMRADIO.DE: Aber das bringt natürlich auch wieder Aufregung in die Ostukraine, wo sich die Menschen sowieso schon in großer Not befinden. Wie sieht denn die Situation der Menschen dort derzeit aus?

Schlegel: Die Situation ist tatsächlich dramatisch, besonders in den Siedlungen direkt an der Kontaktlinie. Dort steigt die Angst und die Befürchtung, dass es wieder verstärkt zu Artilleriebeschüssen kommen kann.

In diesen Dörfern, die direkt an der Kontaktlinie liegen, ist das größte Problem eigentlich die Isolation von den größeren Orten, von den Straßen, die die Siedlungen mit dem Rest des Landes verbinden. Dadurch kommt es eben zu Versorgungsengpässen bei zum Beispiel Heizmaterialien, aber auch bei Nahrungsmitteln und Medikamenten.

Die Menschen, die noch dort leben sind vor allem die Leute, die nicht weggehen konnten, weil sie entweder zu arm sind oder weil sie eine chronische Krankheit haben oder eine Behinderung haben oder weil es größere Familien sind, die keine geeignete Unterkunft finden könnten. Und diese zurück gebliebenen Menschen, die sind tatsächlich in einer sehr dramatischen Situation.

DOMRADIO.DE: Inwiefern wirkt sich die Corona-Pandemie auf die Not der Menschen aus?

Schlegel: Die Corona-Pandemie hat diese Isolation, die in diesen Siedlungen hinter den Checkpoints herrscht, natürlich noch sehr stark verstärkt. Seit letztem Frühjahr gibt es fast gar keine Transportmöglichkeiten mehr in und aus diesen Gebieten. Es ist noch viel schwieriger geworden, Person geeignet zu behandeln. Das gilt nicht nur für Corona, sondern auch für alle anderen Krankheiten.

Und weil sich die dort zurück gebliebene Bevölkerung vor allem aus älteren Menschen zusammensetzt, ist das nochmal viel schlimmer.

DOMRADIO.DE: Caritas International hilft vor Ort und unterstützt dort verschiedene Hilfsprojekte. Was sind denn das für Projekte, die Sie da unterstützen?

Schlegel: Jetzt, direkt an der Kontaktlinie ist ein Projekt, das vor allem darauf abzielt, die Grundbedürfnisse, der dort zurück gebliebenen Menschen zu versorgen. Das ist zum einen Heizmaterial. Sie müssen sich vorstellen, dass es im Winter dort sehr kalt werden kann und dass diese ländlichen Häuser mit einem einzigen Ofen beheizt werden.

Dazu brauchen die Menschen dort Heizmaterial und das kann die Caritas für eine gewisse Anzahl von Begünstigten in Form von Briketts liefern, die von Sonnenblumenfeldern gemacht werden. Das ist eine Komponente dieses Projekts.

Eine andere Komponente sind Nahrungsmittel, die über mehrere Monate eine akute Versorgungskrise bei jemandem überbrücken können. Dazu gehört ein Paket, das aus Grundnahrungsmitteln besteht und deswegen ausreicht, um eine Person einen Monat lang zu ernähren.

Wir verteilen auch Medikamente. Das sind lebensrettende Medikamente, die von einem Arzt verschrieben werden und jetzt in der Corona-Pandemie direkt zu den Leuten nach Hause gebracht werden. Diese Leute können meistens nicht zum Arzt und auch keine Apotheke besuchen. Deswegen ist das oft eine lebensrettende Maßnahme, die Leute vor Ort mit Medikamenten zu versorgen.

Die Caritas bietet auch psychosoziale Unterstützung. Die Menschen in diesen Gebieten leben seit sieben Jahren unter Angst und sind traumatisiert. Dafür gibt es individuelle Therapien und auch Gruppen, die darauf abzielen, dass die Menschen Umgangsstrategien für ihre Traumata und mit der täglichen Angst finden.

DOMRADIO.DE: Was muss und kann denn die Politik machen, speziell die EU, um diesen Konflikt in der Ostukraine zu beenden?

Schlegel: Wichtig ist, in der jetzigen Situation besonnen zu handeln und die politischen Mittel einzusetzen, die zur Verfügung stehen und nicht das, was Russland macht. Wir wiederholen nicht mit Säbelrasseln auf Säbelrasseln.

Die EU hat großen Spielraum bei Sanktionen und die EU hat einen großen Hebel darin, dass ein großer Teil der russischen Einnahmen von Öl- und Gas-Exporten abhängt. Wenn man hier klare Zeichen setzt gegenüber Russland, können für Russland die Kosten eines Angriffes und die Kosten dieses lange gezogenen Krieges sehr stark steigen und damit auch die Popularität dieses Krieges in der russischen Bevölkerung abnehmen.

Jetzt in dieser Situation ist es wirklich wichtig, dass die europäischen Länder vereint eine harte Kante zeigen - auf der diplomatischen Ebene.

Das Interview führte Heike Sicconi.


Ukraine-Konflikt / © Alexei Alexandrov/AP (dpa)
Ukraine-Konflikt / © Alexei Alexandrov/AP ( dpa )

Ukrainischer Soldat in der Ostukraine / © Evgeniy Maloletka (dpa)
Ukrainischer Soldat in der Ostukraine / © Evgeniy Maloletka ( dpa )
Quelle:
DR