DOMRADIO.DE: Aus Lesbos erreichen uns in den vergangenen Tagen wirklich schlimme Bilder, nicht nur aus den Flüchtlingscamps. Das waren auch Bilder von Straßenschlachten. Sie waren in den vergangenen Tagen auf Lesbos. Wir ist die Situation dort?
Marion Sendker (Journalistin): Die Menschen wehren sich. Sie wollen die Migranten und Flüchtlinge nicht mehr haben und wollen nicht, dass noch mehr kommen. Denn seit fünf Jahren kommen immer mehr Menschen. Das heißt, der Protest richtete sich einmal gegen den Zufluss der Menschen, dann gegen die Zentralregierung in Athen, die nichts macht und den Insulanern nicht hilft.
Der Protest richtet sich aber auch gegen NGOs, die dort massenhaft vor Ort sind und den Flüchtlingen helfen. Man weiß gar nicht, wie viele NGOs es wirklich sind - 150 wird geschätzt. Und die Insulaner sagen: Wenn ihr den Flüchtlingen nicht helfen würdet, dann würden auch nicht mehr kommen. Und der Protest richtete sich jetzt zuletzt auch gegen Journalisten, die dort waren und berichten wollten. Das heißt: Die Insel quasi gegen den Rest der Welt. Und das ist natürlich ein Ausdruck von Hilflosigkeit.
DOMRADIO.DE: Zum Hintergrund muss man vielleicht auch wissen, dass die griechische Regierung auf Moria ein geschlossenes Abschiebelager für Flüchtlinge errichten will. Aber schon jetzt ist es so, dass im Lager Moria auf Lesbos 21 mal so viele Flüchtlinge wie Einwohner leben. Die Frage ist natürlich: Ist die Insel nicht einfach hoffnungslos überfordert?
Sendker: Auf jeden Fall. Aber auch das ist nicht erst seit gestern so, sondern hat sich ja über die letzten Jahre so entwickelt. Als ich auf Lesbos war und mit Menschen gesprochen habe, haben die mir auch gesagt, sie seien nicht per se gegen die Flüchtlinge. Sie seien ja bereit, Menschen aufzunehmen und ihnen zu helfen. Es sei einfach die schiere Masse.
Die Menschen fühlen sich vergessen auf Lesbos. Die Insel wird zu einer reinen Flüchtlingsinsel. Deswegen gab es jetzt auch so heftige Proteste gegen das neue Camp. Denn mit diesem Camp, das sozusagen in der Pampa gebaut wird, zementiert man eigentlich den Status von Lesbos als Flüchtlingsinsel, als Abschiebeort für Flüchtlinge. Man versucht, die Menschen aus den Augen und damit aus dem Sinn zu schaffen. Aber für die Insulaner sind sie trotzdem da.
DOMRADIO.DE: Und jetzt hat auch noch die Türkei die Grenzen aufgemacht. Es kommen viele, viele neue Flüchtlinge. Was erwartet diese Menschen denn in Griechenland auf den Inseln? Dort ist es im Moment noch ziemlich kalt. Gibt es dort überhaupt Unterkünfte für so viele neue Migranten?
Sendker: Unterkünfte im klassischen Sinne gibt es schon lange nicht mehr. Um das Camp selber herum haben die Flüchtlinge selbst etwas gebaut, das man nur noch Dschungel nennt, wo es auch sehr gefährlich ist. Das ist quasi eine Parallelwelt, ein rechtsfreier Ort mit viel Clankriminalität, et cetera. Die Menschen versuchen sich dort mit den einfachsten Mittel - mit Flaschen, Deckeln und Planen - irgendwie kleine Wohnungen, kleine Häuser zu zimmern. Sie leben dort auf engstem Raum zusammen. Es gibt nicht genügend Infrastruktur - nicht genügend Elektrizität, Heizung, nicht genügend Zugang zu Anwälten.
Es gibt ungefähr 25 Anwälte, die sich mit Asylrecht auskennen - auf 21.000 Menschen gerechnet. Da hat natürlich fast keiner Zugang zu einem Anwalt und Rechtsbeistand. Auch die einfachen Dinge fehlen, wie zum Beispiel Steckdosen. Jemand hat mir erzählt, es ist zu Gewalt gekommen, weil man sich über Steckdosen gestritten habe. Man sieht auch in der Inselhauptstadt Mytilini nahe Moria, wie viele Flüchtlinge vor Geldautomaten stehen. Das sind irre lange Schlangen, weil selbst die Geldautomaten nicht mehr reichen.
DOMRADIO.DE: Griechenland reagiert jetzt fest entschlossen und hart. Da wird an der Grenze regelrecht aufgerüstet. Politische Lösungen scheinen nicht in Sicht. Wie schätzen Sie die Lage jetzt ein? Wie wird es weitergehen?
Sendker: Ich glaube, da muss man in die Türkei gucken. Das Öffnen der Grenze ist als Drohung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu verstehen, der gerade ganz dringend Geld braucht und innenpolitische Probleme hat. Das Geld soll zum Beispiel aus Deutschland kommen. Daran, dass die Grenzen weiterhin offen sind, könnte man ablesen, dass dieses Geld noch nicht bezahlt worden ist.
Aber Erdoğan kann sich auch jetzt massiv verkalkuliert haben. Denn er hat immer mehr Menschen zur Grenze geschickt: Die Türkei hat Busse direkt zur Grenze geschickt. Die Küstenwache eskortiert Boote rüber nach Griechenland. Dort kommen die Menschen aber nicht rein. Die Frage ist für Erdogan: Was macht man mit den Menschen, die an der Grenze sind und die dann doch wieder in die Türkei zurückkommen? Das kann wie ein Bumerang zurück feuern.
Ansonsten muss Europa dort reagieren. Wenn die Grenzen in der Türkei jetzt nicht geschlossen werden, werden wir da wahrscheinlich noch dramatischere Szenen sehen als jetzt. Insofern ist Europa da ganz, ganz dringend gefragt, etwas vorzuschlagen, vielleicht eine Quotenregelung einzuführen oder Griechenland irgendwie zu helfen.
Das Interview führte Hilde Regeniter.