Was hinter der Sanktionsaufhebung gegen Cardenal steckt

Ein barmherziger Akt

Rund 35 Jahre war es Ernesto Cardenal verboten, das Priesteramt auszuüben. Das hatte Papst Johannes Paul II. verfügt. Nun die Kehrtwende durch Franziskus, der diese Sanktionen wieder zurücknimmt. Mehr als nur ein Gnadenakt?

Ernesto Cardenal / © Katharina Ebel (KNA)
Ernesto Cardenal / © Katharina Ebel ( KNA )

DOMRADIO.DE: Warum hatte denn Johannes Paul II. Ernesto Cardenal damals verboten, das Priesteramt weiter auszuüben?

Michael Huhn (Historiker und Adveniat-Mitarbeiter): Johannes Paul II. hat auf eine mittelamerikanische Situation, auf einen dortigen Konflikt eine polnische Antwort gegeben. Ernesto Cardenal hat einmal geschrieben, dass die Urchristen dasselbe wollten wie Karl Marx, nämlich den Kommunismus. Bei einem solchen Satz sind bei einem Papst, der in Polen groß geworden ist, alle roten Lampen angegangen, denn er wusste, was Marxismus in der Praxis heißt.

Das war der entscheidende Auslöser, dass er gesagt hat: Schluss damit, wir wollen keinen Marxismus in die Kirche hineinholen. Was Johannes Paul II. missverstanden hat, ist, dass es Ernesto Cardenal nicht darum ging, eine weitere Filiale des Sowjetkommunismus aufzubauen, sondern, dass das Stichwort "Marxismus" zunächst ein Chiffre für die erhofften revolutionären Veränderungen in Nicaragua sein sollte.

DOMRADIO.DE: Ernesto Cardenal war auch oft in Deutschland zu Besuch. Zuletzt hat er die Ehrendoktorwürde der Universität Wuppertal erhalten. Haben Sie ihn erlebt?

Huhn: Ich habe ihn bei einer Lesung in der Universität Münster erlebt. Ernesto Cardenal hat 1971 mit seinen Lesereisen begonnen und diese fortgeführt bis 2017, bis ins hohe Alter. Es war immer ein starker Zulauf, vor allem in den 70er, 80er und auch noch in den 90er Jahren, weil viele Christen hierzulande sich große Hoffnungen auf eine neue Form von Kirche in Lateinamerika machten. Dazu kam die Faszination von der Persönlichkeit und vor allem der Lyrik, der Literatur des Ernesto Cardenal.

DOMRADIO.DE: Was zeichnet denn den Mann und sein literarisches Schaffen aus?

Huhn: Ernesto Cardenal ist ein Mystiker. Er schreibt in seiner Autobiografie "Ich bin zum Dichter geboren. Und weil ich zum Dichter geboren bin, bin ich Priester geworden, um die Schönheit Gottes zu besingen." Ich glaube, das ist auch die Stärke seines Werkes: Seine Gedichte, nicht so sehr seine politischen Analysen, allen voran die Nachdichtung der Psalmen, die mich als jungen Menschen selbst sehr geprägt haben. Auch seine Darlegung des Evangeliums in dem berühmten Buch "Das Evangelium der Bauern von Solintename", das aus Predigtnachgesprächen entstanden ist und sein "Kosmisches Werk".

Er hat eine Gabe, die Schöpfung in den alten Worten der Bibel und der Psalmen neu zu preisen. Das ist hochpoetisch und hochmystisch. Er ist stark geprägt worden von seinem Lehrer, dem Trappistenpater Thomas Murten in den USA, bei dem er zwei Jahre in eine geistliche und dichterische Lehre gegangen ist.

DOMRADIO.DE: Trotzdem war Johannes Paul. II. das Wirken von Ernesto Cardenal zutiefst suspekt. Papst Franziskus hat nach langer Zeit jetzt die Sanktionen gegen ihn aufgehoben. Warum?

Huhn: Ein Leitwort von Papst Franziskus ist die "Barmherzigkeit". Dazu gehört auch, dass das, was es an Missvergnügen und Ärger gegeben hat, überwunden werden muss. Dies ist jetzt in Nicaragua in einer sehr schönen Szene geschehen, die fast wie ein Spiegelbild einer Szene aus dem Papstbesuch von Johannes Paul II. auf dem Flugplatz von Managua war. Das ist ein Bild, das in allen Bänden zur Kirchengeschichte Lateinamerikas zu finden ist, wie Ernesto Cardenal dort kniet und den Segen des Papstes Johannes Pauls II. erbittet und stattdessen einen drohenden Zeigefinger entgegenstreckt bekommt.

Jetzt, so viele Jahre später, geht ein Bischof an das Krankenbett Ernesto Cardenals in Managua, kniet sich hin und erbittet als Bischof von Ernesto Cardenal den priesterlichen Segen. Ich glaube, Papst Franziskus hat auch diesen Weg ermöglicht, weil er für das Anliegen eines freien Glaubens, freier Menschen eine große Sympathie hat.

DOMRADIO.DE: Seit Monaten wird in Nicaragua gegen Präsident Daniel Ortega protestiert. Wie steht denn Cardenal heute zu ihm?

Huhn: Er ist verbittert und schockiert, was aus den Revolutionären des Jahres 1979 geworden ist. Die Desillusionierung begann schon während der Regierung der Sandinisten, also der revolutionären Bewegung in Nicaragua, als Ernesto Cardenal aus dem Kultusministerium herausgedrängt worden ist.

Später kam es zu einem ganz bitteren Prozess um den Besitz des Zentrums auf der Insel Solentiname, wo Ernesto Cardenal mit seinen Freunden ab 1966 gelebt hatte. Dieses Zentrum ist ihm unter fadenscheinigen Gründen weggenommen worden. Man hat ihm einen Prozess nach dem anderen angehängt, er konnte zeitweise auch gar nicht in seine Heimat zurückkehren. Es ist das Trauerspiel Daniel Ortegas und seiner Frau, die sich entschlossen haben, allen Idealen zu entsagen und sich in einer Weise zu bereichern, die nicht viel anders ist als einst bei der Familie der Diktatoren, gegen die sie sich selbst vor 40 Jahren gestellt hatten.

Diese Kehrtwende hin zur Korruption, zur Macht und zu Besitz, wollte Ernesto Cardenal nicht mitvollziehen und da musste er einen Schnitt machen zwischen sich und seinen alten "Freunden".

Das Interview führte Heike Sicconi.


Quelle:
DR