Eigentlich sind die Fakten klar: Ein Priester, der mit einer Zwölfjährigen Küsse, Zärtlichkeiten und noch mehr austauscht, begeht sexuellen Missbrauch. Das zu akzeptieren, ist offensichtlich für manche Pfarrgemeinde nicht so einfach. Das zeigt ein Fall aus dem Bistum Würzburg, bei dem sich Teile der Katholiken in Bad Bocklet für genau einen solchen Geistlichen einsetzen - mit Unterschriftenlisten und großem Getöse in den Medien.
Dort dürfen sie mal mehr, mal weniger ausführlich ihre vermeintlichen Argumente gegen ein rechtskräftiges Urteil vom Amtsgericht Bad Kissingen ausbreiten, in dem der Priester zu einem Jahr und vier Monaten auf Bewährung verurteilt wurde. Es kommt zur klassischen Umkehr von Täter und Opfer.
Empörungswelle wird medial befeuert
Der Fall ist auf vielerlei Ebenen schwierig. Die Empörungswelle wird medial befeuert. Gehört werden vor allem jene, die den Pfarrer für unschuldig halten oder mildernde Umstände sehen. Schließlich habe das Mädchen für ihn geschwärmt. Dabei geht schnell unter, dass es eben auch andere gibt, die das Urteil befürworten.
Allerdings tut der Pfarrer offenbar selbst nichts dafür, die Lage zu beruhigen: Denn wie können Leserbriefschreiberinnen öffentlich die privaten WhatsApp-Nachrichten der Betroffenen an den Geistlichen für ihr Plädoyer zugunsten des Mannes heranziehen?
Bischof Jung greift ein
Selbst eine in ihrer Schärfe kaum zu steigernde Distanzierung des Würzburger Bischofs Franz Jung verhallt ungehört. "Die Organisatoren und Unterzeichner der Aktionen fordere ich auf, das Urteil und das Leid der Betroffenen zu akzeptieren und Tatsachen nicht zu verdrehen", schreibt Jung. Und: "Sie lassen zudem mit Erschrecken erkennen, dass offensichtlich in Teilen der innerkirchlichen Öffentlichkeit noch immer nicht angekommen ist, dass sexueller Missbrauch ein Verbrechen ist, das nicht geduldet werden kann."
Damit verweist der Bischof auf viel tieferliegende Probleme. "Wenn es, wie man sagt, ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind großzuziehen, dann braucht es genauso ein Dorf, um es zu missbrauchen." Diesen Satz des Bostoner Opfer-Anwalts Mitchell Garabedian aus dem Film "Spotlight" zitiert der Tübinger Professor Michael Schüßler in seinem Aufsatz "Pastoraltheologische Vertiefung kirchlicher Präventionsbemühungen". Schüßlers These lautet: Es gibt nicht nur den einen Täter, es gibt auch die, die weggeschaut haben oder leugnen.
Ein Fall von "Co-Klerikalismus"
"Co-Klerikalismus" nennt der Theologe das Phänomen, analog zur Co-Abhängigkeit im engsten Beziehungsumfeld von Suchtkranken. Es wird laut Schüßler zum Bestandteil einer destruktiven Dynamik, indem Normalität aufrechterhalten wird, die es faktisch nicht gibt. Die Geschichten des Suchtkranken werden geglaubt, es wird weggeschaut, um die eigene Beziehungs- und Familienidentität nicht zu zerstören. Das wiederum verweist auf ein weiteres Problem, das Schüßler im Idealbild gemeindlichen Lebens nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) verortet, nämlich die Pfarrfamilie.
"Der Pfarrer kümmert sich als mal strenger, mal fürsorglich werbender 'Pater Familias' um die Herde seiner Pfarrfamilie. Und umgekehrt schützt eine Familie eben den Vater", schreibt Schüßler und zitiert die Missbrauchsstudie der deutschen Bischöfe, die sogenannte MHG-Studie: "Besonders problematisch erscheint die geringe Akzeptanz in den Gemeinden (sog. territoriale Pastoral), was zu mangelhaften Schutzkonzepten gerade in den Verantwortungsbereichen führt, in denen Missbrauch durch Kleriker gehäuft stattfindet."
Doch die Gemeindemitglieder per se zu verteufeln, wenn sie ihren Pfarrer wie etwa in Bad Bocklet unterstützen, sei zu kurz gegriffen, findet der Psychologe und Theologe Wunibald Müller. Täter zu sein heiße nicht, dass der Priester nicht auch für andere der gute Seelsorger gewesen sei. Aber er könne eben auch eine dunkle Seite haben. Diese zu sehen, falle vielen Laien schwer, sagt Müller.
Bad Bocklet fühlt sich alleingelassen
Experten sprechen daher von einem Schock, ähnlich einer plötzlichen Todesnachricht, wenn so eine Tat öffentlich wird. Diesen Erkenntnissen folgend hat das Bistum Würzburg eine eigene Interventionsordnung mit Hilfen für Gemeinden wie Bad Bocklet erlassen. Von einem "irritierten System" ist in dem Regelwerk die Rede, ebenso von Trauerarbeit und Trauma. Eigentlich braucht es dafür persönliche Gespräche vor Ort. Doch das ist schwierig in Zeiten von Corona.
In Bad Bocklet führt das mittlerweile zum Vorwurf, allein gelassen worden zu sein. Das Bistum sieht das anders. Trotzdem haben die ersten Katholiken nun bekanntgegeben, keine Kirchensteuer mehr zu zahlen - auch das mit entsprechender medialer Begleitung.