Im Traum hatte er den Ort gesehen. Wo er seinen Wanderstab in die Erde steckte, sollte Grün sprießen. Eine Hirschkuh sollte dort mit ihren Hufen eine frische Quelle ausscharren. Und schließlich sollten sich an dieser Stelle zwei Flüsse vereinigen. Der heilige Disibod fand diesen Ort tatsächlich, wie in Heiligenviten üblich; am Zusammenfluss von Nahe und Glan, oberhalb des heutigen 1.800-Einwohner-Dorfes Odernheim in der Rheinpfalz.
Am Osthang dieses Hügels ließ sich der irische Wandermönch und Einsiedler nieder. Aus seiner Klause wurde ein geistliches Zentrum zur Christianisierung der ganzen Nahe-Region, später ein befestigtes Kloster. Und bis heute, genau 1.400 Jahre nach seiner Geburt, heißt der Ort Disibodenberg. Ganz so träumerisch wie in der "Vita Sancti Disibodi" beschrieben, dürfte es nicht zugegangen sein. Denn darauf, dass es sich hier offenbar um einen mystischen Ort handelte, waren auch schon die Kelten gekommen. Sie errichteten am späteren Disibodenberg eine heilige Stätte. Die Römer folgten mit einem Jupitertempel.
Disibod wurde - laut der seit Mitte des 9. Jahrhunderts gesicherten Überlieferung - 619 in Irland geboren. Auch als Disens, Disso oder Diesen findet er sich in den spärlichen historischen Quellen. Um 640 soll er seinen Gefährten Giswald, Klemens und Sallust als Missionar aus den dortigen Klosterschulen ins Frankenreich gefolgt sein, weil er "für Christus pilgern wollte" (pro Christo peregrinare volens), wie es der zeitgenössische irische Abt Adamnan von Iona beschrieb. Manche Legende spricht von einer Bischofswahl Disibods wider Willen; doch sei er als Bischof von Teilen seiner Gemeinde wegen seiner Sittenstrenge torpediert worden.
Durch die Jahrhunderte
Im Jahr 700 (oder 674?) starb Disibod; in den Bistümern Mainz, Trier, Worms und Speyer wurde er bald als Heiliger verehrt. Und sein Disibodenberg blieb ein heiliger Ort. Wiederholt wurde hier ein Kloster gegründet, unter anderem vom Mainzer Erzbischof Willigis, der um 975 Augustinerchorherren ansiedelte. 1108 kamen Benediktinermönche, die den Berg als "Eigenkloster" auch zu einer Militärfestung des Mainzer Erzstifts ausbauten. Hinter dem Altar der 1143 geweihten Klosterkirche wurde das Grab des heiligen Disibod verehrt.
Die heute prominenteste Episode brachte die heilige Hildegard von Bingen (1098-1179) auf den Hügel. Genau dort, wo man heute eine prächtige Aussicht auf Odernheim und das Glan-Tal hat, lebte sie ab 1112 für 39 Jahre, zurückgezogen von der Welt, als sogenannte Reklusin (Eingeschlossene); die längste Epoche ihres Lebens.
Die "grüne Heilige"
1136 zur Vorsteherin der dortigen Frauenklause gewählt, strebte sie eine eigene Klostergründung an und trat sogar mit dem Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux in Kontakt, dem damals wirkmächtigsten Mann der Christenheit. Auf dem Disibodenberg hatte sie ihre berühmten Visionen und verfasste ihr Hauptwerk "Scivias" (Wisse die Wege). Als Hildegard schließlich auf dem Rupertsberg in Bingen ein eigenes Kloster gründete und 1165 nach Eibingen im Rheingau weiterzog, verlor die Männergemeinschaft auf dem Disibodenberg ihre Strahlkraft. Die politischen Händel der Zeit taten ihr Übriges.
1259 folgten Zisterzienser aus Eberbach, einem Tochterkloster der Primarabtei Clairvaux, und mit ihnen eine neue Blüte. Von ihnen stammen die meisten der Ruinen, die man bis heute in parkähnlicher Landschaft auf dem Berg besichtigen kann. Doch Fehden, Kriege und Plünderungen Anfang des 16. Jahrhunderts setzten dem Kloster zu; in der Reformationszeit ging es 1559 vollends unter. Spätere Versuche zur Wiederbelebung scheiterten; die Konventsgebäude wurden zum Steinbruch.
Dass der Disbodenberg ein besonderer Grund ist, kann der Besucher dennoch bis heute spüren. Auf dem Altar der kleinen modernen Kapelle am Hang, die Hildegard und Disibod gewidmet ist, hinterlassen Pilger Briefe an die "grüne Heilige" und Kirchenlehrerin. Auch nach 1.400 Jahren ist hier Frömmigkeit lebendig.