DOMRADIO.DE: Wer war Hildegard von Bingen? Was war das für eine Frau?
Maria Jonas (Sängerin und Spezialistin für die Musik der heiligen Hildegard von Bingen): Sie hatte vielfältige Betätigungsfelder und war bestimmt eine herausragende Persönlichkeit ihrer Zeit. Deswegen gibt es auch so viele überlieferte Werke von ihr. Es gäbe sie gar nicht, wenn es nicht aufgeschrieben worden wäre. Es gab kein Papier. Es mussten dafür Schreibstuben in Klöstern herhalten und Mönche, die das aufschreiben konnten. Sie selber schrieb das nicht. Sie hat ihr ganzes Oeuvre auf Wachstafeln hinterlassen.
Es gibt in ihrem Hauptwerk "Scivias" eine schöne Miniatur, an der man sehen kann, dass sie auf Wachstafeln schreibt. Und auf der anderen Seite der Klausur ist ein Mönch zu sehen, der das auf Pergament schreibt.
DOMRADIO.DE: Es ist ja doch einiges von ihr überliefert. Es gibt Hildegard-Medizin, viele Texte von ihr, ebenso auch Kompositionen. Was fasziniert Sie ganz persönlich an Hildegard von Bingen?
Jonas: Einmal, dass sie es geschafft hat, dass alles überliefert worden ist. Das ist wirklich schon eine besondere Kunst zu der damaligen Zeit - zumal dies auch noch als Frau zu schaffen. Das ist nicht selbstverständlich.
Sie bekam ja dann auch die Anerkennung ihrer Visionen vom Papst, sodass sie das aufschreiben durfte oder aufschreiben lassen durfte.
Sie war Klostergründerin, hat mehrere Klöster gegründet. Das auch zu einer Zeit, wo Frauenkloster eigentlich geschlossen worden sind. Die Kirche sah das nicht gerne, dass Frauen in Klöstern ansässig waren. Die wurden zu der Zeit eigentlich geschlossen und sie öffnete gerade zu der Zeit zwei. Das spricht von einem großen Selbstbewusstsein, auch durch ihre Kritik an der Kirche, wobei sie selber konservativ war.
Sie war schon eine durch und durch gläubige, fromme Frau, die auch an die Hierarchie der Kirche glaubte und die auch verteidigte.
DOMRADIO.DE: Trotzdem hat sie aber durchaus massiv auch in einigen Sachfragen, die sie gestört haben, kritisiert. Warum war sie denn so unerschrocken?
Jonas: Sie ist im Kloster aufgewachsen. Sie war schon als Kind dort und hatte auch schon dort Visionen. Ich denke, es war ein ganz besonders starker Charakter, der sich im Klosterleben dann auch entfalten konnte - besser als in der Ehe vielleicht sogar. Denn eine Ehe war ja nicht unbedingt angenehm für die Frauen damals. Die wurden nicht aus Liebe vermählt, sondern es waren Geschäfts-Ehen und viele Kinder starben bereits im Kindbett.
Also wenn man eine gewisse Art von Bildung erreichen wollte und überleben wollte, dann war man im Kloster als Frau sicher besser aufgehoben als in der Ehe. Sie konnte dort in dieser Abgeschiedenheit als Kind, denke ich mir, ihre Stärken entwickeln und wurde von ihren Mitschwestern auch darin unterstützt. Sie lebte auch in der Klausur. Das heißt, sie war wirklich abgeschieden von der Welt.
DOMRADIO.DE: Hildegard von Bingen ist vor über 800 Jahren gestorben. Was können wir denn heute noch von dieser Frau lernen?
Jonas: Ihr Durchsetzungsvermögen auf alle Fälle. Was ich persönlich ganz wichtig finde, war, dass sie den Menschen in der eigenen Verantwortung sah. Also nicht Gott ist verantwortlich, wenn es einem schlecht geht, sondern der Mensch selber.
Sie war auch in dem Sinne eine Naturschützerin. Sie sagte, wenn jetzt ein Baum umfällt oder wenn einem irgendwas auch in der Landwirtschaft widerfährt, dann hat man das selbst zu verantworten. Es ist nicht alles Gottes Schuld, sondern der Mensch selber entscheidet.
Das ist für ihre Zeit natürlich sehr visionär und sehr vorweg, denn im Mittelalter mit seinen Ordnungen war ganz klar: Von dem Herrn, von Gott hängt alles ab. Wenn dann einer kommt und sagt: Nein, du bist selbst verantwortlich, dann ist das schon sehr viel.
Das Interview führte Martin Mölder.