Trotz der Morddrohungen bereut er diese Entscheidung.
"Wir müssen ihnen die andere Wange hinhalten. Denn solange nicht jemand Wichtiges stirbt, gibt es keine Lösung." Doch statt ein toter Held zu sein, sitzt Padre Geraldo (76) nun im kargen Zimmer eines Jesuitenwohnheims in Sao Paulo. Sechs Jahre hat er sich in der 12-Millionen-Stadt versteckt.
2006 hatte der damalige Leiter der Jugendbegegnungsstätte "Casa da Juventude" in der zentralbrasilianischen Stadt Goiania ein Bürgerkomitee gegründet, um Fälle von Polizeigewalt zu untersuchen.
Einfach verschwunden
Allein in den Jahren 2005 und 2006 hatte es 117 suspekte Mordfälle gegeben, bis 2011 stiegen die Verdachtsfälle auf mehr als 300. "Meist waren die Opfer Personen aus armen Familien, Straßenhändler, Obdachlose, Jugendliche. Manche holte die Polizei daheim ab, woraufhin sie für immer verschwanden." Es gehe stets um dunkle Geschäfte, Mafia, um Polizisten, die überall mitverdienen wollten.
Rasch sei klar geworden, dass die Polizei in diesen Fällen bewusst schlampig ermittle. "Keine Ermittlung lief normal, keine wurde bis zum Ende durchgezogen", so der Geistliche. Es habe auch Drohungen gegen aussagewillige Zeugen gegeben. Man wisse ja, wo der Sohn zur Schule gehe, hätten Polizisten einer Mutter gesagt. Selbst in Gerichtssälen und vor dem Richter hätten Polizisten offen die Zeugen bedroht. Ohne Konsequenzen.
"Alle werden bedroht"
"Die Richter haben Angst, die Zeugen auch, ja sogar die Staatsanwälte. Alle werden bedroht, und sie wissen, dass die Polizisten tatsächlich töten. In diesem Klima ist es unmöglich, etwas zu erreichen", sagt Padre Geraldo. Er reichte trotzdem mehr als 40 Mordfälle an die Justiz weiter, die im Februar 2011 aufgrund der Verdachtslage 19 Polizisten festnahm. Wenige Monate später waren alle wieder frei, wurden von ihren Kollegen mit Applaus begrüßt.
Der Jesuitenpater erhielt unterdessen Morddrohungen. Man zimmere schon seinen Sarg, so ein anonymer Anrufer. Dann kamen Warnungen von verängstigten Personen aus seinem Umfeld, er solle auf der Stelle ermordet werden. Man drängte ihn, Goiania zu verlassen. Auch die Kirchenleitung machte ihm Druck, sie wollte wohl keinen Märtyrer.
Feinde machen
Bereits Anfang der 90er Jahre hatte Padre Geraldo in Manaus Ähnliches erlebt. Damals zeigte er ebenfalls Verbrechen der Polizei an, er spricht von "Todesschwadronen". Als Konsequenz wurde das Sekretariat für Sicherheit der Landesregierung geschlossen. Der Pater hatte sich Feinde gemacht. Eines Tages umringten ihn plötzlich 16 Polizisten auf offener Straße, feuerten ein Maschinengewehr dicht an seinem Kopf ab.
Die Kirchenleitung schickte ihn sofort nach Goiania. Er ziehe solche Geschichten wohl an, sagt er lächelnd.
"Niemand will als arm gelten"
Eine Verachtung für Arme stehe hinter den brutalen Aktionen, meint der Ordensmann. In Städten wie Manaus und Goiania herrsche noch eine Wild-West-Mentalität, gepaart mit Rassismus. "Wer schwarz und arm ist, gilt immer noch als Sklave, als Untermensch, und kann deshalb getötet werden." Selbst unter armen Leuten spüre er eine Scham, als arm angesehen zu werden. "Wenn ich ihnen sage, dass Gott die Armen liebt, wiegeln sie ab. Arm sein ist unwürdig. Niemand will als arm gelten."
In den vergangenen Jahrzehnten ist Goiania vom unbedeutenden Provinznest zur Hauptstadt des Agrobusiness aufgestiegen. Neureiche Unternehmer wie die Fleischbarone Batista, die nach eigenen Angaben rund 2.000 Politiker landesweit geschmiert haben, prägen die Mentalität. "Hinter den brutalen Polizisten stehen meist Großgrundbesitzer aus dem Landesinneren, die viel Geld, aber keinerlei Kultur haben", sagt Padre Geraldo.
Religion und Raffgier
Die meisten seien ultrakonservativ und gehörten evangelikalen Kirchen an, was zu einem verqueren religiösen Sendungsbewusstsein gepaart mit Raffgier führe.
Die Polizisten, allen voran die berüchtigten ROTAM-Streifen, konnten stets sicher sein, nicht für ihre Taten belangt zu werden. Auf manchen Dienstwagen hatten sie provokative Aufkleber angebracht: "Papa zeugt Dich, Mama zieht Dich groß, und wir töten Dich!" Viele der 2011 angezeigten Polizisten hätten mittlerweile Karriere gemacht, so der Pater.
Keine Verstecken mehr
Einen Polizisten, dessen Entlassung wegen Misshandlung von Straßenkindern er vor Jahren erwirkt hatte, sah er vor kurzem im Fernsehen wieder. Bei einem Studentenprotest spaltete der Beamte im Frühjahr einem Studenten mit seinem Schlagstock den Schädel.
Er selbst fühle sich nicht mehr bedroht, sagt der Priester. Auch wenn manchmal seltsame Anrufe kämen. Im Landesinneren von Goias hat er nun ein neues Sozialprojekt gestartet. Schließlich müsse ja auch mal Schluss sein mit der Angst. "Die Zeit des Versteckens ist vorbei", lautet sein Entschluss.