DOMRADIO.DE: Ein Zeichen gegen den Antisemitismus zu setzen - wie wichtig ist das für Sie persönlich?
Jürgen Rüttgers (ehemaliger NRW-Ministerpräsident (CDU)): Es ist mir ein ganz, ganz persönliches Anliegen. Deutschland hat ein Antisemitismus-Problem. Synagogen in Deutschland müssen von der Polizei bewacht werden, ebenso jüdische Sozialzentren. Wir haben am Mittwoch den Verein im Jüdischen Sozialzentrum in Köln gegründet. Da steht die Polizei vor der Tür. Gleiches gilt auch dafür, wenn wir No-Go-Areas haben, in denen man nicht mit der Kippa auftreten kann oder Schulhöfe, auf denen das Wort "Jude" inzwischen ein Schimpfwort geworden ist.
DOMRADIO.DE: Wie wollen Sie in dem neu gegründeten Verein zur Stärkung jüdischer Kultur zeigen, dass Judentum bunt und fröhlich ist und sein soll?
Rüttgers: Ich glaube, zunächst einmal ist wichtig, dass wir uns selber sagen, dass zu viele ein Auge zugedrückt haben, wenn es irgendwo Antisemitismus gab. Da muss man klar sagen. Jeder Deutsche muss sich gegen Antisemitismus wehren. Und man muss hinzufügen: Wer heute auf offener Straße gewalttätig Juden, jüdische Deutsche angreift, der hat kein Anrecht auf Asyl in Deutschland.
DOMRADIO.DE: Im Gedenken an den Holocaust sind die Deutschen groß. In den Taten gegen Antisemitismus eher klein - so ähnlich lautet heute ein Kommentar im Portal der Zeitung "Die Welt". Sehen Sie das auch so?
Rüttgers: Ja, das ist richtig. Wir müssen wirklich aufpassen, dass wir unsere Position nicht nur bei Festreden klar beschreiben, die ja heißt: Nie wieder Antisemitismus aber auch, dass wir für das Existenzrecht Israels eintreten.
Der Hintergrund unseres neuen Vereins ist ja folgender: In wenigen Jahren - im Jahr 2021 - haben wir 1.700 Jahre jüdisches Leben in dem Gebiet, das man heute Deutschland nennt. Da gibt es ein Edikt des römischen Senats - damals noch römisches Reich - in dem angeordnet wurde, dass in der Stadt Köln Juden Mitglied des Stadrates werden konnten. Unsere Idee ist, dass wir die nächsten Jahre dazu nutzen, zusammen über jüdisches Leben in Deutschland zu reden, zu diskutieren, uns die Musik anzuhören.
Wir sind sehr stolz, dass bei der Vereinsgründung nicht nur die Oberbürgermeisterin der Stadt Köln, Henriette Reker, mitgemacht hat, sondern ebenso der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg und der Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages, Hans Leyendecker.
Wir wollen ein breites Bündnis in Deutschland haben und stellen uns vor, dass wir einfach dieses Jahr nutzen - wie unsere evangelischen Mitbrüder das mit dem Lutherjahr gemacht haben - um darüber zu reden, was Deutschland den jüdischen Mitbürgern zu verdanken hat. Dann werden wir sehen, dass Deutschland ohne diese jüdischen Mitbürger - ihre Leistungen, ihren Einsatz - überhaupt nicht denkbar ist.
DOMRADIO.DE: Antisemitismus ist ein Indikator, dass in der Gesellschaft etwas falsch läuft, das Hass wieder um sich greifen kann. Warum, denken Sie, geht Antisemitismus uns alle an, egal, ob wir Jude, Christ oder Moslem sind?
Rüttgers: Dazu gibt es ja inzwischen viele Untersuchungen. Wir wissen, dass das natürlich auch etwas mit der Migration zu tun hat. Wir wissen, das es etwas damit zu tun hat, dass es Menschen gibt, die Angst vor der Zukunft haben. Wir wissen, dass es etwas mit Populismus und mit wachsendem Nationalismus zu tun hat und natürlich auch mit einer Schwächephase, die die christlichen Kirchen haben.
Wir müssen jetzt aufstehen! Wir müssen den Anfängen wehren. Das machen wir am besten zusammen. Deshalb ist dieses Jahr 2021 ein guter Anlass, sich unserer eigenen Verpflichtung bewusst zu werden, nämlich, dass so etwas wie in der Nazibarbarei nie wieder passieren darf.
Das Interview führte Dagmar Peters.