Ende der 1970er Jahre konnte die Lektüre für die katholischen Leser der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" extrem unangenehm ausfallen. Nämlich dann, wenn der protestantische Kirchenhistoriker Klaus Scholder (1930-1985) seine neuesten Erkenntnisse über die katholische Kirche im Dritten Reich veröffentlichte. Am 25. Oktober 1980, vor 40 Jahren, dürfte ihnen weder der Kaffee noch das Brötchen geschmeckt haben, als sie die Zeitung aufschlugen.
Denn an diesem Tag machte Scholder seinen jüngsten Fund in dem Artikel "Ein Requiem für Hitler" publik, der Schockwellen durch das katholische Deutschland schickte. Sollte der ehemalige Vorsitzende der Bischofskonferenz und Fürsterzbischof von Breslau, Kardinal Adolf Bertram (1859-1945), wirklich noch in den letzten Kriegstagen eine solche Anweisung herausgegeben haben?
Kardinal Bertram - ein Nationalsozialist?
Scholder präsentierte eine Kopie mit handschriftlichen Notizen des Kardinals. Seither dient dieser Zettel als Beweis für die braune Gesinnung des letzten Fürsterzbischofs - und hat geradezu kanonischen Status in der Forschungsliteratur angenommen.
Das ist vielleicht deutlich überbewertet. Der Görlitzer Bistumsarchivar Winfried Töpler hat diesen Zettel, der mittlerweile in einem einwandfreien Digitalisat vorliegt, vor drei Jahren genauer untersucht. Er stammt demnach definitiv von Kardinal Bertram, jedoch weist ein großer roter Strich über dieser Anweisung darauf hin, dass der Kardinal den Gedanken verworfen hat. Auch fehlen die sonst üblichen Hinweise zur Ausführung.
Töpler schließt daraus, dass Scholder damals eine schlechte Kopie zugespielt bekommen hat, denn dieser rote Strich ist auf der Kopie nicht zu erkennen. Ebenfalls hat den Archivar misstrauisch gemacht, dass der originale Schmierzettel in Breslau verwahrt wird, der Kardinal aber Ende Mai 1945 kriegsbedingt gar nicht mehr in der Stadt weilte.
Anlass könnte das Attentat von 1944 gewesen sein
Also musste der Fürsterzbischof zu einem anderen Anlass über ein Requiem für Hitler nachgedacht haben. Nach Töpler kommen dafür nur wenige Stunden am Tag des gescheiterten Hitler-Attentates am 20. Juli 1944 in Betracht. Doch ist noch unbekannt, wer dem Kardinal die Information überbracht haben könnte, Hitler wäre bei dem Attentat gestorben. Der Berliner Bischof Konrad von Preysing?
Wenn dem so wäre, dann würde sich die Anweisung eines Requiems für Hitler und "alle im Kampf für das 'deutsche' Vaterland gefallene Angehörige der Wehrmacht, zugleich verbunden mit innigstem Gebete für Volk und Vaterland und für die Zukunft der katholischen Kirche in Deutschland" ganz anders lesen: Kardinal Bertram wäre nach dieser Interpretation erleichtert gewesen, dass Hitler bei dem Attentat umgekommen wäre.
Zwar keine Staatsaffinität, aber...
Historiker dürften daher diesen Schmierzettel nicht länger als ultimativen Beweis für die "Staatsaffinität" des Kardinals benutzen. Dass sich jedoch insgesamt damit keine Neubewertung von Kardinal Bertram ergibt, darauf weist der Archivar auch hin: Der Kardinal hat das Dritte Reich bis zum Schluss unterstützt.
Der Tübinger protestantische Theologe und Historiker Scholder arbeitete zu dem Zeitpunkt, als er diesen Zettel öffentlich machte, an einem großangelegten Projekt: die Geschichte der beiden Kirchen in der NS-Zeit. Die Zeitung erschien ihm als das geeignete Medium, seine Ideen der Öffentlichkeit und Fachwelt vorab vorzustellen und Reaktionen zu provozieren. Der katholische Historiker Konrad Repgen (1923-2017) ließ sich mit Scholder auf eine mit größter Härte geführte Diskussion über das Reichskonkordat von 1933 ein.
Erst Zurückweisung, dann Bekenntnis
Der US-amerikanische Historiker Mark Edward Ruff hat vor einigen Jahren die These aufgestellt, dass die Rolle der katholischen Kirche in der NS-Zeit besonders dann thematisiert wurde, wenn es um den Einfluss der Kirche auf die Nachkriegspolitik und ihre Rolle in der modernen Gesellschaft ging.
Wenn damals der Vorwurf nach zuviel Nähe zum Dritten Reich erhoben wurde, stellte sich die katholische Kirche geschlossen dagegen - auch wenn sie sehr genau wusste, wer ein weißes, braunes oder schwarzes Schaf war. Ende April 2020 haben sich die deutschen Bischöfe in einer Erklärung zum 75. Jahrestag des Kriegsendes zu den Verfehlungen ihrer Vorgänger im Zweiten Weltkrieg bekannt.