Jugendgangs, die über Leichen gehen. Eine Rate von zuletzt 64 Morden pro 100.000 Einwohner. Dazu soziale Verwerfungen und das Erbe eines jahrelangen Bürgerkriegs. Nach El Salvador, dem Beispielland der diesjährigen Fastenaktion des katholischen Hilfswerks Misereor, reist es sich mit einem leicht mulmigen Gefühl im Magen. Und dann das: Von der Terrasse der Unterkunft aus ein grandioser Blick auf den fast 1.900 Meter hohen Vulkan El Boqueron; zu dessen Füßen die Hauptstadt San Salvador. Begegnungen mit Menschen, die trotz aller Probleme versuchen, die Zukunft zu gestalten.
Der Nationalheld des Landes empfängt den Besucher bereits am zentralen Flughafen. «Oscar Romero» leuchtet es in großen blauen Neonbuchstaben in den Nachthimmel. Die Ermordung des Erzbischofs von San Salvador am 24. März 1980 war ein Fanal für den Bürgerkrieg, der das kleinste Land Mittelamerikas bis 1992 erschütterte und rund 70.000 Menschenleben forderte. Dann schlossen die beiden Konfliktparteien, das Militärregime und die linksgerichtete Guerilla FMLN, im mexikanischen Schloss Chapultepec Frieden.
Narben des Konflikts schmerzen bis heute
Doch die Narben des Konflikts schmerzen bis heute, wie Kardinal Gregorio Rosa Chavez einräumt, einer der prominenten Stimmen des Landes. "Der Krieg hat uns einen Friedensprozess hinterlassen, mit neuen Institutionen", sagt der Weihbischof von San Salvador. "Wir lernen noch, mit dieser neuen Wirklichkeit zu leben." Oscar Romero, der sich auf die Seite der Armen und Benachteiligten schlug und deshalb sterben musste, soll dabei helfen.
Im Herbst wurde der Kirchenmann heiliggesprochen - und ist spätestens seitdem für ganz El Salvador, so scheint es, eine Art überparteiliche Hoffnungsfigur. Zu sehen ist das etwa in der Kathedrale der Hauptstadt, unten in der Krypta, der letzten Ruhestätte Romeros. Immer wieder kommen Frauen, Männer und Kinder hierher, verharren im Gebet, berühren das Bronzerelief über dem Grab.
Draußen weist unterdessen ein Schild darauf hin, dass der Vorplatz der Kathedrale schusswaffenfreie Zone sei. Ein paar Meter weiter stehen Wachleute mit Pumpguns und Revolvern vor Apotheken, Shops und Restaurants. Wie viele Gewehre und Pistolen es in El Salvador gibt, weiß niemand so recht, sagt der aus Deutschland stammende Soziologe Benjamin Schwab, der an der katholischen Universität UCA in San Salvador über Jugendgewalt forscht. Die Bestände jedenfalls sind enorm. Manches davon sei noch aus der Zeit des Bürgerkriegs, das allermeiste aber stamme aus den USA, so Schwab.
Gespaltenes Verhältnis zu den USA
Zum "großen Bruder", der im Bürgerkrieg die Militärs nach Kräften unterstützte, haben die Salvadorianer ein gespaltenes Verhältnis. Der "American Way of Life" ist in der Hauptstadt mit Fast-Food-Ketten und Shopping Malls namens "Dollar City" omnipräsent. In den USA formierten sich unter Auswanderern aber auch die berüchtigten Jugendgangs, die Mara-Banden, die heute El Salvador und den Nachbarstaaten so zu schaffen machen.
Die US-Behörden begannen nach dem Bürgerkrieg, kriminell gewordene Jugendliche massenhaft in ihre Herkunftsländer abzuschieben. Das angespannte Klima aus Gewalt und Kriminalität wiederum treibt andere aus dem Land. Ein weiterer Faktor für die anhaltende Migration ist eine große Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Es mangelt an vielem: bei der Wasserversorgung, im Gesundheitswesen oder bei bezahlbarem Wohnraum. Tag für Tag sollen mehrere hundert Menschen El Salvador verlassen. Nicht selten ziehen sie Richtung USA, um dort ihr Glück zu suchen. Was aber ist mit denen, die bleiben? Rosa Aide Ramirez Martinez ist eine, die nicht aufgibt. "Das Leben hat mir gezeigt, dass man sich den Dingen stellen muss", sagt sie.
Trotz einer Behinderung - ihr linkes Bein ist verkürzt, weshalb sie auf Krücken angewiesen ist - bahnte sie sich ihren Weg. Über das Caritas-Projekt "Mein Lebensplan" fand sie einen Job als Kassiererin in einem Baumarkt in San Salvador. Morgens steht die 26-Jährige, die mit ihren Eltern und Geschwistern auf dem Land lebt, um fünf Uhr auf, abends kehrt sie gegen halb acht zurück.
Jugendliche wünschen sich intakte Familien
Dort wird sie von dem kopfüber an der Wäscheleine hängenden grünen Familienpapagei "Blu" empfangen - und rund 150 Hühnern. Die Zucht bringt Rosita zusätzliche Einnahmen. Geld, das sie mit der Familie teilt, die immer für sie da gewesen sei. An der Hand trägt sie den Ehering des Vaters. Zu dem hat sie eine besonders enge Beziehung, wie sie erzählt. Als ihre Erkrankung ausbrach, habe ihr Vater am Krankenbett ausgeharrt, um die schwangere Mutter zu entlasten.
Intakte Familienstrukturen - das ist in El Salvador angesichts vieler sozialer Probleme für Jugendliche oft ein Wunschtraum, wie im Jugendtreff "Juventud Integral El Sauce" in Sonzacate (JIES) deutlich wird. Die Misereor-Partnerorganisation Fundasal hat die Initiative angeschoben, die mittlerweile Hunderte Kinder erreicht hat. Leiterin Iliana Jeanette Renderos Arrue verlor ihren Vater durch Suizid. Die 23-Jährige, die gerade ihr Psychologie-Studium abgeschlossen hat, fand als Heranwachsende Halt bei JIES.
Dabei habe sie auch gelernt, als Frau mehr Selbstbewusstsein zu haben. Denn auch das ist ein Problem in El Salvador: Neun von zehn Frauen machen Schätzungen zufolge Erfahrungen von Missbrauch und Gewalt - entweder in der eigenen Familie oder außerhalb. Immer noch werde Jungen ein falsches Rollenbild vermittelt, sagt der 29-jährige Kevin Jonathan Barrientos Paz, der sich ebenfalls beim JIES engagiert. Sein Mitstreiter Juan Carlos Ramos Martinez ergänzt: Jungs hätten in der Kultur des Machismo Stärke zu zeigen - dabei trage das vermeintlich schwache Geschlecht die eigentliche Verantwortung.
Hilfe muss an der Basis ansetzen
Frauen und Mädchen müsse man mit Respekt begegnen, sagt Kevin - und das klingt in diesem Moment überhaupt nicht aufgesetzt. Es geht voran, wenn auch langsam. Und es lohnt sich, am Ball zu bleiben, findet Misereor-Chef Pirmin Spiegel. Wichtig sei, dass die Hilfe an der Basis ansetzt. So wie beim Lebensplan-Projekt der Caritas oder dem Jugendtreff in Sonzacate.
Vieles ist in Bewegung in El Salvador. Wohin die Reise geht, ist nicht immer klar. Eine Portion Gottvertrauen kann jedenfalls nicht schaden. Auf den allermeisten der farbenfroh lackierten Bussen fährt der "Salvador", der Erlöser, als Jesusbild mit.