DOMRADIO.DE: Sie nennen in ihrem Buch "Handelt!" als Hauptprobleme auf dieser Welt zum Beispiel technische Innovationen und die künstliche Intelligenz. Ist das mehr Fluch als Segen?
Jörg Alt (Jesuitenpater und Sozialwissenschaftler): Alles hat seine Vor-und Nachteile. Aber im Moment - gerade unter dem Druck der Ressourcenübernutzung, die wir haben - sehe ich die Gefahr, dass wir schneller und positiver über technische Innovationen denken, als angemessen wäre. Gerade bei Gentechnologie ist es ja oft so, dass Sachen eingeführt und genehmigt werden, ohne dass man gründlich über die Folgen und Wirkungen nachdenkt.
Oder wenn wir in den militärischen Bereich reinschauen, wo Drohnen mittlerweile mehr Aufgaben übernehmen als menschliche Soldaten. Wie kann eine Drohne wirklich zuverlässig entscheiden, ob die Person, auf die sie zufliegt, ein Feind ist oder ein Zivilist? Denn die Drohne kann nur in Kategorien von Null und Eins denken und hat nicht diese Möglichkeit zur Intuition, die ein Mensch nun einmal hat. Bis ein Computer so weit ist, dass etwas der Intuition Vergleichbares geschaffen wird, werden noch 10, 20 Jahre vergehen.
Ein anderes Beispiel: Social-Media und die ganzen Daten, die wir im Internet platzieren. Mittlerweile ist ja bekannt, wie Staaten und private Gesellschaften das nutzen, um unsere Wahlentscheidungen in der Demokratie zu manipulieren. Ich sehe hier ganz große Gefahren, die eben nicht vergessen werden dürfen - auch, wenn wir die ganzen Vorteile nutzen müssen, um die Welt retten zu können.
DOMRADIO.DE: Sie bemängeln auch den Kapitalismus in der Welt. Aber viele Finanzgesetze wurden nach der Finanzkrise vor 13 Jahren verschärft. Vor vier Jahren wurden die Panama Papers öffentlich. Die Finanztransaktionssteuer will die Bundesregierung laut Koalitionsvertrag noch einführen. Hat sich nicht schon einiges zum Besseren getan?
Alt: Nicht wirklich. Richtige Verbesserungen konnte die Finanzlobby bis jetzt verhindern. Ich nenne da nur das Trennbankensystem - also, dass man die Geschäftsbanken für Unternehmen und Privatkunden vom spekulativen Investment-Bankensystem trennen wollte. Das wurde in den USA wieder aufgehoben, und in der EU und Deutschland wurde es gar nicht richtig eingeführt.
Was die Finanztransaktionssteuer betrifft, so ist ja die Idee, die man jetzt im Moment einführen will, eben nicht eine Steuer gegen Finanzspekulation und Finanzprodukte, sondern auf Aktien - also eine Steuer, die die Realwirtschaft treffen würde. Und genau das wollten wir nicht.
Sie nennen die Panama-Papers. Dass Offshore-System existiert ja nach wie vor. Und Kapital-Inhaber können dieses Offshore-System mit Steueroasen und Briefkastenfirmen nutzen, um Staaten zu erpressen. Wenn ein Großinvestor zu einer Regierung geht und sagt: "Wenn ihr mir nicht diese und jene Zugeständnisse macht, gehe ich woanders hin", dann bekommt er nach wie vor, was er will. Das zeigt doch, dass das Kapital nach wie vor in der heutigen Welt das Sagen hat und nicht die Demokratie und die Regierungen.
DOMRADIO.DE: Sie sagen, die christliche Soziallehre ist der Schlüssel für die Probleme dieser Welt. Erklären Sie es kurz.
Jörg Alt: Es kann ein Schlüssel sein. Es gibt viele, aber: Ja, davon bin ich überzeugt. Im momentanen System des Neoliberalismus sind ja der freie und ungeregelte Markt sowie der Wettbewerb die bestimmenden Faktoren. Entsprechend steht der Kapitalprofit über sozialen und ökologischen Kriterien.
Wir müssen uns angesichts der Krise, die wir im Moment haben, wieder deutlich ins Bewusstsein rufen, dass es auch eine Zeit vor dem Neoliberalismus gegeben hat. Gerade die katholische Soziallehre hat ja auf ein Gesellschaftssystem positiv eingewirkt, welches wir von der alten Bundesrepublik her noch kennen. Die soziale Marktwirtschaft, die wir in Deutschland hatten, führte beispielsweise zu einer nie dagewesenen Gleichverteilung von Wohlstand. Das jetzige System schmeißt hingegen die Gewinne nach oben, während am unteren Ende nichts ankommt oder die Verteilung stagniert.
Wenn wir uns ins Bewusstsein rufen, dass eine Gesellschaft auch nach anderen Kriterien organisiert werden kann - und die Techniken dafür gibt es - dann müssten wir uns einfach noch überlegen: Welche Kriterien wollen wir für unsere Welt? Da würde ich schlicht und ergreifend sagen, dass nicht Kapital und Profite gelten sollten, sondern das Gemeinwohl von allen.
Wie die Flüchtlingsbewegung zeigt, kann man Gemeinwohl in der heutigen globalisierten Welt nicht mehr nur regional oder national verstehen, sondern man muss es global denken. Denn, was wir an anderen Teilen der Welt versäumen, das schlägt auf uns zurück.
DOMRADIO.DE: Sie äußern in Ihrem Buch auch Ihre Visionen von einer modernen Kirche. Sie lassen Frauen predigen, entpflichten Amazonaspriester vom Zölibat, lassen verheiratete Männer zu Priestern weihen. Wollen Sie das wirklich? Oder wollen sie provozieren?
Alt: Ich habe mir überlegt: Wie könnte in der heutigen Zeit eine Kirche aussehen, die auf der einen Seite modernen Entwicklungen Rechnung trägt, aber auf der anderen Seite die Einheit als globalen Akteur nicht gefährdet? Ich glaube sehr wohl, dass wir einige Sachen, die der Tradition zuzuordnen sind und nicht der Heiligen Schrift, dass wir diese Zöpfe endlich abschneiden müssten.
Ich war lange Zeit in Lateinamerika und ich kenne mich auch ein bisschen in Afrika aus. Ich glaube durchaus, dass man den Zölibat weltweit freistellen könnte oder dass man Frauen selbstverständlich zur Diakoninnen weihen oder zu Kardinälinnen erheben könnte. Ich glaube, das würde die Kirche nicht spalten.
Probleme sehe ich zum Beispiel bei gleichgeschlechtlichen Lebensverhältnissen. Ich glaube, so weit wären die Menschen in anderen Kulturen noch nicht. Und ich glaube auch, dass man Frauen noch nicht zu Priesterinnen oder Bischöfinnen ernennen könnte. Aber wir könnten sehr viele Probleme einfach abräumen, um uns dann wieder den richtigen Problemen der Welt zuwenden zu können, die unserer Aufmerksamkeit dringend bedürfen.
Das Interview führte Tobias Fricke.