Die Einsamkeit hier am Ende der Welt liegt förmlich in der Luft. Das Wasser in den nordwestlichen Einbuchtungen der Antarktis gleicht einem großen stillen See an windfreien Tagen. Jeder auftauchende Pinguin oder Wal ist ein Ereignis. Es ist die Faszination der Langsamkeit.
Die rund 380 Gäste des touristischen Expeditionsschiffes "MS Roald Amundsen", das am 29. Dezember in Ushuaia in See sticht, machen sich auf einen Weg ins Ungewisse. Patagonien und die Antarktis verbindet ein Mythos des Abenteuers und der Unendlichkeit. Es ist für einige das Ende der Welt, für andere wenige hat es auch eine spirituelle Bedeutung: Es ist die Begegnung mit der reinen Schöpfung. So hat ein deutsches junges Paar aus Frankfurt sich bewusst für die Antarktis und gegen Hawaii als Hochzeitreise entschieden, weil "wir diese Reise für besinnlicher und existenzieller halten, was ja auch zur Jahreswende passt", sagt Thaddäus Clauss.
Reise in die Stille
Jeder der Passagiere, der dort am Hafen von Ushuaia einsteigen, hat andere Erwartungen und Motive, dabei zu sein. Vielen geht es nur darum in sozialen Medien zu posten, dass sie dort waren. Japaner, Chinesen, Amerikaner und Europäer brauchen mindestens einen Tag, um anzukommen in Feuerland, wo die Reise in die Stille losgeht.
Das Runterkommen nach rund 20 Flugstunden mit Aufenthalt an anderen Orten ist nicht einfach. Auf einem Kontinent deutlich größer als Europa sind jetzt im Polarsommer rund 4000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und einige Tausend Touristen die einzigen Menschen in der Antarktis. Gletscher, Vulkane, Robben, Pinguine, Vögel und Wale bestimmen das Bild. Nur vereinzelt taucht ein Schiff auf.
Im Winter, wenn die Konditionen sehr eisig sind, bleiben nur noch 1000 Forscher hier. Auch der Tourismus liegt dann brach. Anders als in der Arktis, wo die "MS Roald Amundsen" in ein paar Monaten hinfährt, gibt es hier am Südpol keine Zivilisation. Schifffahrtsingenieur Svein Aurstad zieht deswegen den Nordpol vor: "Wir dürfen keinen Alkohol trinken während unserer Zeit an Bord und sind normalerweise zwei oder sechs Monate am Stück unterwegs, bis wir wieder zu Hause sind. Da hat die Arktis schon etwas mehr zu bieten." Um sein Hals baumelt ein Peace-Zeichen. Auf dem Schiff gibt es auch religiöse Treffen für solche, die in der Zeit an Bord geistlichen Beistand suchen. Es werden auch Messen organisiert auf dem Boot, das unter norwegischer Flagge fährt.
Ushuaia ist die "Bucht, die nach Osten blickt"
Viele wollen gerade wegen der Stille und Einsamkeit an den Süd- und nicht an den Nordpol. Das gilt auch für die deutsche Gartenbau-Unternehmerin Sandra Klaucke, die ein Faible für die antarktischen Eislandschaften hat: "Die unberührte Schöpfung hier so zu erleben, das ist schon sehr inspirierend". Der Wunsch, zwischen Gletschern und Vulkanen am Ende der Welt zu sein, wo vielleicht alles begann, habe sie lange umtrieben. Als sie dann sah, dass der norwegische Anbieter HX Expeditionen einen Frühbucher-Bonus für die Antarktis im Programm hatte, war sie sofort dabei. Die Reisen sind nicht günstig. Es fängt je nach Länge des Trips, Kabinen-Kategorie und Herkunftslandes bei zwischen 10.000 Euro und 13.000 Euro an. Das Vergnügungsprogramm beschränkt sich auf ein paar kleine Klavierkonzerte, auch an Silvester.
Obwohl überraschend viele Gäste weit über 60 Jahre alt sind, ist die Fahrt eigentlich nicht unbedingt für ihr Alter geeignet. Bei der 2,5-tägigen Fahrt durch die Drake-Passage ruckelt es ordentlich. Viele werden seekrank, andere haben sich schon beim Charter-Flug von Buenos Aires nach Ushuaia übergeben.
Wie ein von göttlicher Hand geschaffenes schillerndes Kunstwerk
Das alles ist erstmal vergessen, als die "MS Roald Amundsen" am Silvesterabend langsam in der Eiswelt ankommt. Gebilde aus losgelöstem Eis, das viel älter ist als die moderne Zivilisation, wirken erst gespenstisch, im Gesamtblick jedoch wie ein in verschiedenen Farben von göttlicher Hand geschaffenes schillerndes Kunstwerk.
Es ist neblig und nicht wenige Gäste müssen plötzlich an die Titanic denken. Aurstad beruhigt: "Das kann uns nicht passieren." Die "MS Roald Amundsen" ist gerade wenige Jahre alt und fährt mit zwei Verbrennungs- und zwei Elektromotoren. Fallen die Verbrennungsmotoren aus übernehmen kurzzeitig die Elektromotoren. Bei einem Leck würde nicht sofort das gesamte Boot mit Wasser volllaufen und der Motorraum ist doppelt geschützt, auch gegen Feuer: "Das ist heutzutage das gefährlichste auf einem Schiff."
Der Versuch eines nachhaltigen Tourismus
HX Expeditionen ist neben Hapag-Lloyd und National Geographic einer der wenigen durch die International Association of Antarctica Tour Operators (IAATO) autorisierten Polarkreis-Veranstalter. Rund 40.000 Touristen kommen durchschnittlich im Jahr an die Antarktis. Im Urlauber-Boom-Jahr 2019/2020 waren es fast doppelt so viel. Für manche der jungen mitreisenden Wissenschaftler auf der "MS Roald Amundsen" ist jeder von ihnen einer zu viel. Für andere ist es wichtig, dass die Menschen sehen, was hier auf dem Spiel steht und vielleicht mit einer veränderten Einstellung wieder nach Hause reisen, wie sich die auf dem Schiff arbeitende deutsche Geologin Muriel Bülhoff wünscht: "Aber das ist ein hoher Anspruch." Während sie Touristen in die Zodiacs und bei der Orientierung hilft, ist sie froh, wenn sie mal von einem auf wissenschaftliche Daten angesprochen wird: "Es wäre toll, wenn die meisten hier was mitnehmen in Sachen Naturschutz."
Viele sehen den Trip natürlich ganz anders. Es wird viel und wüst drauflos fotografiert, ohne die Stille der Antarktis auf sich wirken zu lassen. HX Expeditionen muss für seine Gäste wie alle andere IAATO-Veranstalter auf der Antarktis ein striktes Protokoll einhalten, was die Touristen aus aller Welt auch sensibilisieren soll. Sie und ihr Team tun alles dafür. Ihr Kollege Matthew Gledhill macht in seinem Vortrag über Wale nochmal klar, dass Schiffe das Hauptproblem für deren Bedrohung sind. Durch den Motorlärm im Meer kommt es immer wieder zu tödlichen Unfällen. Allerdings seien die Kreuzschiffe noch das geringste Problem für die marine Welt, sondern "die Tausenden von Frachtschiffen." Die Schuld an deren wachsenden Verkehr hat jeder von uns, der wieder etwas bestellt, das er eigentlich gar nicht braucht.
Die Rückreise aus der Antarktis nach Ushuaia, die erneut durch die wilde Drake-Passage führt, ist deswegen für so manchen der HX Expeditionen-Passagiere auch ein Läuterungsweg.