Matthias Beck über die Pandemie und seinen Glauben

"Eine Bankrott-Erklärung der menschlichen Vernunft"

Matthias Beck ist Medizinethiker und Theologe. Vielleicht hat er dadurch eine ganz eigene Sicht auf die aktuelle Pandemie. Im Himmelklar-Podcast spricht er über den Lockdown, die Impfstoff-Verteilung und wie der Glaube durch die Krise hilft.

Pflege in Corona-Zeiten / © Harald Oppitz (KNA)
Pflege in Corona-Zeiten / © Harald Oppitz ( KNA )

Himmelklar: Vielen geht im Moment ja zu langsam, was in Deutschland oder auch in der Welt passiert, wenn es ums Thema Impfen geht. Sie sagen, wir waren schneller als gedacht, oder?

Prof. Dr. Matthias Beck (Medizinethiker und Theologe): Viel schneller als gedacht. Dass man nach einem Jahr einen Impfstoff entwickelt hat, das ging nur deswegen, weil die Erfinder schon lange, seit 30 Jahren, daran geforscht haben, in anderen Zusammenhängen wie Krebserkrankungen. Dass er überhaupt nach einem Jahr zugelassen worden ist – normalerweise dauert so ein Zulassungsverfahren zehn bis 15 Jahre. Die Firmen können jetzt relativ viel herstellen. Und dass es auch verteilt werden kann. Da sind ja verschiedene Schritte: Der Impfstoff muss erprobt werden, er muss erforscht werden. Er darf keine Nebenwirkungen haben oder nur sehr geringe Nebenwirkungen. Dann muss er in genügender Zahl hergestellt werden und dann muss er noch logistisch verteilt werden. Was bei diesem BioNTech-Stoff sehr kompliziert ist, weil er bei -80 Grad transportiert werden muss. Das können nicht viele Unternehmen. Hier ist also eine Kette von Schwierigkeiten, die angesichts der Größe der Herausforderung doch relativ schnell, zwar noch nicht gelöst worden ist, aber doch auf einem guten Weg ist.

Himmelklar: Bezüglich der Verteilung beschweren sich einige, dass es ungerecht zuginge – weltweit, aber auch schon innerhalb von Deutschland. Wie kann man das lösen, wenn man es ethisch betrachtet?

Beck: Wir haben hier in der Bioethikkommission in Österreich beim Bundeskanzleramt dazu ein eigenes Papier gemacht. Der Deutsche Ethikrat hat das auch zusammen mit der Ständigen Impfkommission in Deutschland entschieden: Dass wir zunächt die älteren Patienten, die am meisten bedroht sind, sofort danach die Pflegekräfte und die Ärzte, die mit diesen Patienten auf Intensivstationen zu tun haben, impfen. Dann vielleicht Menschen des öffentlichen Lebens, Politiker. Dabei sind jüngere Politiker nicht ganz so gefährdet wie ältere Menschen im Altersheim. Wir haben eine Priorisierung aufgestellt, die auch, glaube ich, ganz gut funktioniert.

In Österreich wird der Impfstoff verteilt. Ich habe mich auf eine Liste setzen lassen. Das wird zentral organisiert. Ich bin noch nicht dran, aber mir geht es auch ganz gut. Und ich kann mich hier in meiner Wohnung in Wien zurückziehen und bin jetzt nicht so darauf erpicht. Ich glaube aber, dass der Staat, ob in Deutschland oder Österreich, das ganz gut reguliert, diese Priorisierung, die von Ethikräten und Impf-Kommissionen vorgeschlagen wurde, einigermaßen einzuhalten.

Himmelklar: Wie kann man denn auch weltweit in irgendeiner Weise eine Entscheidung treffen: Wer bekommt den Impfstoff? Wonach geht man bei einer solchen Allokations-Liste?

Beck: Das ist natürlich ein riesiges Problem. Wir haben das gleich zu Anfang angemahnt, dass es im Grunde die WHO ist, die Weltgesundheitsorganisation, die einzige Organisation, die weltweit Kontakte hat. Das kann ja nicht eine österreichische Bioethikkommission machen. Die Weltgesundheitsorganisation hat angeblich von Anfang an mit den Firmen Verträge geschlossen, dass man das auch weltweit verteilt. Ich habe gerade heute Morgen hier im Fernsehen gesehen, in irgendeinem Land wurden schon 15 Millionen Impfstoffe verteilt und in Afrika waren es gerade mal 25 in einem bestimmten Land. Das heißt, natürlich gibt es hier eine riesige Ungerechtigkeit.

Wahrscheinlich, würde ich mal sagen, haben die reicheren Länder sich schneller etwas durch ihre Kontakte besorgt, als die ärmeren Länder. Also, das in einem Land einigermaßen gerecht zu verteilen, ist schon schwierig genug. Die Frage lautet: Wer soll die Impfstoffe bestellen? Soll jetzt Österreich sie bestellen und verteilen, oder Deutschland? Soll die EU das machen? Das ist schon in Europa kompliziert genug, weltweit ist das kaum zu händeln! Da müssen die Kontinente sich selber kümmern. Das wird man weltweit nicht organisieren können.

Himmelklar: Kann das überhaupt gerecht zugehen? Da spielt Geld oder Einfluss ja auch eine Rolle.

Beck: Ja, also von Gerechtigkeit kann da in vielen Bereichen wahrscheinlich keine Rede sein.

Himmelklar: Jetzt geht es genauso um die FFP2-Masken. Auch da ist es ein Problem. Wie verteilt man die? Wer kommt dran und wer nicht?

Beck: Ich weiß nicht, wie die Produktionsmöglichkeiten sind. Die Krankenhäuser haben die Masken schon lange. Ein Land wie Deutschland mit 80 Millionen Einwohnern, sollte doch in der Lage sein, 80 Millionen Masken herzustellen. Die Pandemie gibt es jetzt seit über einem Jahr.

Selbst wenn gesagt wird, die soll man nur acht Stunden tragen und dann soll man sie wegschmeißen. Ich hab ja auch Pharmazie studiert, also meiner Sichtweise nach, wenn man so eine Maske drei Tage liegen lässt oder nicht kocht, aber bei 60 Grad wäscht oder wie andere Leute in den Backofen legt, dann ist dieser Virus tot, sollte er sich darin verfangen haben.

Der Staat sollte sie den ärmeren Leuten zur Verfügung stellen, das wäre noch besser. Aber den Menschen, die sich vielleicht nur eine oder zwei Masken leisten können, könnte man doch Tipps geben, dass man die Masken auch zwei- oder dreimal verwenden kann. Wenn ich sie einmal eine halbe Stunde aufsetze und gehe dann wieder raus an die frische Luft und setzte sie wieder ab, dann werde ich sie am nächsten Tag auch wieder verwenden. Also, ein Staat, ein reicher Staat, der jetzt so viel Geld ausgibt, um Firmen zu stützen, sollte doch in der Lage sein, wenigstens den ärmeren Menschen eine solche Maske zur Verfügung zu stellen.

Himmelklar: Es gibt auch Menschen, die sich jetzt aus verschiedensten Gründen dagegen entscheiden, sich impfen zu lassen. Wie geht man damit ethisch um, beispielsweise bei einer Pflegerin, später dann bei einem Lehrer? Die Diskussion besteht auch bei der Bundeswehr.

Beck: Aus meiner Erfahrung in der Bioethikkommission kann ich sagen: Wir haben lange diskutiert über Zwangsimpfung bei Masern, was ein lang erprobter Impfstoff ist, der so gut wie gar keine Nebenwirkungen hat.

Es gibt Impfgegner, die ihre Kinder nicht impfen lassen. Ich habe viele Vorträge dazu gehalten, auch mal hier in Wien vor 800 Pharmazeuten und Medizinern. Dort habe mich ganz stark gemacht beim Thema Masern: In einigen Fällen bräuchten wir eine Zwangsimpfung, weil ein Kind, das nicht geimpft ist und an Masern stirbt, elendiglich verreckt. Das heißt, es gibt auch eine Schuld durch Unterlassung. Jetzt kommen wir zum sehr jungen Impfstoff gegen SARS-Cov-2, Covid-19, der aber sehr gut erprobt ist, wie ich sehe. 95 Prozent Wirksamkeit, wenige Nebenwirkungen. Wir haben natürlich noch keine Langzeitstudien, deshalb würde ich aufgrund der Neuigkeit von einer Zwangsimpfung Abstand nehmen. Aber in bestimmten Berufszweigen kann es sein, dass das eine Einstellungsvoraussetzung wird. Soweit ich weiß, ich kenne nicht den aktuellen Stand, mussten Ärzte und Krankenschwestern immer gegen Hepatitis geimpft sein. Das müsste man jetzt auf Covid-19 übersetzen.

Wer in bestimmten Berufen arbeiten will, muss geimpft sein. Also Kindergärtner, Lehrer, Krankenpfleger, Ärzte … Und das wird kommen. Ob man es für die Bevölkerung flächendeckend machen kann, weiß ich nicht. Ich bin mir auch unsicher bei dem Vorschlag von Herrn Maas, den er gemacht hat, diejenigen, die geimpft sind, können sich freikaufen und wieder ins Theater gehen – da haben wir wieder eine Zweiklassengesellschaft. Die Reichen können sich das leisten und gehen ins Theater und die Ärmeren nicht. Aber ich würde schon sagen, bestimmte Berufsgruppen wie Kindergärtnerinnen, Lehrer, Altenheimpfleger sollten geimpft werden! Und dann würde ich auch sagen – das müsste man gesetzlich regeln –, dass ein Arbeitgeber, ein Unterhalter eines Altenheims beispielsweise, von seinen Angestellten verlangen kann, dass sie geimpft sind.

Wir wissen immer noch nicht, ob die Impfung wirklich davor schützt, den anderen anzustecken. Bisher, solange wir mehr nicht wissen, brauchen wir weiterhin Abstand und Mund-Nasen-Schutz. Bis einigermaßen klarer wird, ob die Impfung wirklich vor Ansteckung schützt. Das wird sicher noch ein Jahr dauern, bis wir das durch Studien besser erkannt haben. Man weiß es bisher nicht. Es schützt vor einem schweren Krankheitsverlauf, das ja. Insofern würde ich mich impfen lassen. Aber trotzdem muss ich vorsichtig sein, weil ich möglicherweise noch infektiös sein kann.

Himmelklar: In Deutschland gibt es die Verschärfungen. Es wird überlegt, wie wir die Pandemie endlich in den Griff bekommen. Die Infektionszahlen sind weiterhin zu hoch. Unter dem Stichwort „Zero Covid“ will eine Initiative eine europaweite Lösung und Einschränkungsmöglichkeit finden. Was halten Sie davon?

Beck: Ich halte es für unmöglich. Ich halte es auch wirtschaftlich für unmöglich. Ich meine, ich verstehe die ganze Sache wirklich nicht. Aber hier haben wir – jetzt sage ich es mal sehr drastisch – eine Bankrott-Erklärung der menschlichen Vernunft erlebt. Wir haben jetzt ein Jahr dieses Virus. Als das neu auftrat, hatten alle Angst und haben sehr schnell, gerade auch Österreich sehr schnell, sehr präzise reagiert. Drei Wochen totaler Lockdown, runterfahren, Ausgangssperre und so weiter. Und es hat super funktioniert. Wir hatten ganz niedrige Zahlen. Jetzt kommt die Lässigkeit der Menschen, die sagen „Och ja, das wird alles schon nicht so schlimm sein“. Und gleichzeitig die Panikmache. Ich hab Drohbriefe bekommen, nachts E-Mails, ich würde den Bundeskanzler beraten, der würde jetzt im Sommer mit Angst agieren. Nein, in den Punkten berate ich den Bundeskanzler nicht, ich habe eine andere Aufgabe.

Der Virus lebt von uns. Wenn man dem die Nahrung entzieht, das muss man immer wieder sagen, dann ist der tot, der kann alleine nicht leben. Bakterien können alleine auf Nährböden leben. Das Virus braucht einen Wirt, wie das heißt, einen Organismus. Wenn wir es mal geschafft hätten, wie es im Frühjahr war, drei, vier Wochen herunterzufahren, Abstände, Masken, wäre der Virus längst tot. Das Problem ist natürlich, dass wir die Grenzen nicht schließen können, dass die Ausländer zu uns reinkommen und dass viele Leute dann noch ihre Hochzeiten feiern und so weiter. So, und jetzt haben wir wirklich den Salat: Jetzt ist der Virus so gut unterwegs, hat so viel Nahrung, hat so viele Menschen befallen, dass der ganz happy ist, dass der jetzt mutieren kann. Also, je mehr Nahrung er hat, desto lebendiger freut der sich. Das sage ich bildhaft, der Virus hat ja kein Bewusstsein. Der größte Salat der Weltgeschichte ist, dass diese Mutationen aus England und aus Südafrika kommen – und davor hat die Politik eine panische Angst.

Selbst wenn diese Mutationen weniger gefährlich sein sollten. Der Punkt ist aber, dass auch jüngere Menschen infiziert werden. Die werden mindestens so krank, dass sie ins Krankenhaus müssen und dann ist das Gesundheitssystem total überlastet und kollabiert, wie es bereits in England passiert. Ich glaube nicht, dass das funktioniert. Ich würde hoffen, wenn man noch mal versucht, an die Vernunft der Menschen zu appellieren und ihnen das ganz genau zu erklären: Wenn ihr diesen „Zero“-Lockdown verhindern wollt, setzt die Maske auf, bleibt über drei Wochen so viel wie möglich zu Hause. Und dann können wir vielleicht auch mit dieser Mutation fertig werden. Sonst funktioniert das nicht. Wenn sie jetzt noch einmal für vier Wochen alles total herunterfahren, den öffentlichen Nahverkehr und die Leute ins Home Office schicken, ist das gut. Ich glaube nur, noch einen totalen Lockdown hält die Wirtschaft nicht durch. Dann haben wir Massenpleiten und einen Volksaufstand. Ich glaube, dass wir zur Zeit auf der Rasierklinge laufen.

Himmelklar: Die menschliche Vernunft, an die appelliert werden müsste – das ist so eine Sache: Wir müssen uns persönlich selbst dafür einschränken, dass es gemeinschaftlich in der Gesellschaft klappt. Ist das vielleicht das Problem?

Beck: Ja, das ist genau das Problem. Die Leute haben ein Anspruchsdenken. Ich habe letztes Jahr einen Vortrag vor 60 Leuten gehalten, als die erste Lockerung war. Und dann stand ein alter Herr auf und sagte: „Wir klauen hier der Jugend ihre Zukunft, die haben schon drei Monate ihres Lebens verloren“. Da bin ich richtig aggressiv geworden. Ich bin ja noch mittel-alterlich, sozusagen. Unsere Eltern waren sieben Jahre im Krieg. Die haben es auch irgendwie noch hingekriegt. Wir sind ja total verwöhnt. Alles haben wollen, sofort haben wollen. Und wenn ich es nicht kriege, dann werde ich rebellisch.

Wie wäre es mal mit ein bisschen Verzicht? Ich meine, es klingt jetzt sehr großväterlich. Aber ich bin ja 1956 geboren, etwa zehn Jahre nach dem Krieg. Wir haben uns sogar noch gefreut über eine Scheibe Brot. Ich freue mich jeden Abend und sage: „Danke, lieber Gott, dass ich ein Bett habe und ein Dach über dem Kopf“. Das ist ja nicht selbstverständlich, dass das Licht brennt. Ich habe mal einige Wochen in Indien im Krankenhaus gearbeitet. Da fiel abends das Licht aus, um 18 Uhr war der Strom einfach weg. Wir halten alles für selbstverständlich: Die Milch kommt vom Supermarkt, das Licht brennt und die Heizung funktioniert. Das ist doch alles nicht selbstverständlich. Da würde ich jetzt wirklich mal ganz fromm sagen, mal ein bisschen Dankbarkeit, dass wir noch was zu essen haben, Rücksicht nehmen auf den anderen und sagen: „Lieber Gott, vielen Dank, dass es uns in Europa noch einigermaßen gut geht“.

Himmelklar: Man hört auch heraus, bei Ihnen spielt der Glaube eine Rolle, Sie sind Priester. Wie hat das Einfluss darauf, wie Sie beraten beziehungsweise Entscheidungen finden?

Beck: Mein Glaube ist ein bisschen ein anderer. Der ist sehr naturwissenschaftlich durchprägt. Es gibt einen schönen theologischen Satz: „Die Gnade setzt die Natur voraus“. In Österreich gibt es riesige Proteste, dass die Bischöfe zu schwach sind gegen die Politik, dass sie das mit dem Lockdown alles mitmachen. Dann sage ich meinen Freunden immer: „Die Gnade setzt die Natur voraus“. Und Natur heißt hier Vernunftnatur. Also, mein Glaube ist sehr von der Vernunft gesteuert und nicht einfach: Ein bisschen Heiligen Geist, ein bisschen Beten, dann geht das schon wieder weg.

Ich glaube außerdem, dass diese Krise einen Sinn hat. Der liebe Gott hat das Virus nicht geschaffen. Der sitzt ja nicht im Himmel und dreht da so einen Virus-Stecker an. Sondern diese ganze Pandemie hat eine Bedeutung für uns. Wir sind vollkommen entkoppelt, wie auch bei Krebserkrankungen die Zellen entkoppelt sind. Mir sagen zum Beispiel gute Professoren, dieses Virus hat auch zu tun mit der Klimaerwärmung, weil wir ein riesiges Artensterben haben und so weiter. Ich kann die ganzen Zusammenhänge nicht erklären, aber ich kann versuchen, sie philosophisch-theologisch einzuordnen. Wir müssen herunterfahren, wir müssen wieder zu uns kommen.

Und das sehr Konkrete: Viele Menschen sind in die Einsamkeit zurückgeworfen. Was mache ich jetzt in der Einsamkeit? Ich habe gerade ein Buch herausgebracht, das „Gott finden. Wie geht das?“ heißt und bei dem es um den einzelnen geht. Da habe ich eine sehr steile These vertreten, die ich aber voll für richtig halte, sonst hätte ich es nicht hingeschrieben. Das Grundphänomen des Menschen ist, dass er allein ist. Jetzt werden Sie erschrecken. Natürlich sind wir gezeugt worden durch die Eltern. Wir brauchen also die Gemeinschaft. Aber dennoch: Ich muss mein Leben leben. Ich muss es verantworten. Und ich werde meinen Tod sterben, selbst wenn mir jemand die Hand halt.

Und das müssen wir mal sehen: Das Christentum ist auch eine Religion des einzelnen. Der Petrus wird berufen und der Paulus wird berufen. Natürlich bilden wir eine Gemeinschaft, die Kirche. Aber selbst diese Gemeinschaften brechen auseinander. Bei uns in Österreich ist es so, dass die Kirchen zwar als Gebäude offen sind für die Beter, aber es keine öffentlichen Gottesdienste gibt. Selbst die Gemeinschaft der Kirche fällt weg.

Dann sitze ich vielleicht alleine in meiner Wohnung. Was kann ich tun? Erstmal: „Nimm dein Selbst wahr“, würde die mittelalterliche Mystik sagen. Nimm dich in deiner Ausgesetztheit wahr. Und dann komme ich vielleicht in eine tiefere Dimension eines Gottesverhältnisses hinein, dann kann ich mal Psalmen lesen. Ich habe jetzt 30 Kurzbetrachtungen gehalten und übertrage auch mal meine Sonntagspredigten. Und dann sage ich das den Menschen: Wenn du alleine sitzt, kannst du dir wenigstens ein Büchlein nehmen, wo Psalmen drinstehen, dann lies die mal, das ist große Literatur. Dann kommst du wieder in Gemeinschaft mit anderen Betern, die ihre Not herausschreiben. Oder lies das Evangelium, da kannst du mal den Jesus Christus ein bisschen besser kennenlernen. Sehr nüchtern, aber erst einmal diese Ausgesetztheit wahrnehmen. Warum geht Jesus für 40 Tage in die Wüste? – Jetzt kommt bald die Fastenzeit und Ostern. – Weil diese Ausgesetztheit dazu führt, dass ich mal mit Gott selber in Beziehung komme. Ich komme ja, wenn ich sonntags einmal eine Stunde zum Gottesdienst in die Kirche renne, meistens mit dem wahren Gott gar nicht in Verbindung.

Zurück zu Ihrer Ausgangsfrage: Ich bin ein gläubiger Mensch, aber nicht so fromm, sondern mein Glaube hat eine existentielle Dimension. Mein Leben brach um mit 25 Jahren, sonst wäre ich nie Priester geworden. Wir haben ja diesen ganzen Glauben so verdünnt! Wir haben den Leuten so ein paar Formeln um die Ohren gehauen und jetzt glaubt man, man macht ein paar Gebete und dann ist die Pandemie vorbei. Der liebe Gott ist doch kein Automat, wo man 20 Pfennig reinschmeißt und dann kommt unten das Ende der Pandemie heraus … Und wenn Sie mich nach meinem Glauben fragen, dann ist er sehr nüchtern durchrationalisiert, vernünftig, mit Naturwissenschaften kompatibel. Ich sag: Was mache ich jetzt damit? Ich hab nichts anderes. Ich bin auf mich zurückgeworfen. Was mache ich mit meiner Langeweile? Okay, ich nehme mir ein Buch. Ich nehme mir das Alte Testament. Ich lese die Psalmen. Ah, da gibt es auch andere Menschen, die haben auch schon geklagt. Das wäre die unterste Ebene. Dann sage ich: „Jetzt kannst du die Zeit nutzen, ein geistliches Leben einzuüben“. Es gibt verschiedene Ebenen, was ich in die Menge hinein durch Videobotschaften sage und was ich im Einzelgespräch sage, wenn Priester und andere Menschen zu mir zur Begleitung kommen – was jetzt natürlich alles online geht.

Himmelklar: Weil Sie, sagen wir mal, die beiden Standbeine haben, mit denen Sie im Leben stehen: Woher kommt Ihre Hoffnung?

Beck: Ich muss noch ein Buch schreiben über Sprichwörter. Es heißt immer, die Hoffnung stirbt zuletzt! Da muss man sofort fragen, welche Hoffnung? Das klingt jetzt sehr drastisch – ich entschuldige mich sofort – im Letzten stirbt jede Hoffnung, weil wir alle sterben. Die einzige Hoffnung, die letzte Hoffnung, die bleibt, ist, dass wir ein Leben über dieses Leben hinaus haben. Also, wenn Jesus Christus das Leben ist, diese Hoffnung stirbt nicht und das wäre meine Anbindung. Ich bin vollkommen realistisch. Die Leute sagen mir, du bist so negativ. Ich bin überhaupt nicht negative, ich bin nur realistisch, auch medizinisch realistisch.

Was soll ich jetzt hoffen? Soll ich hoffen, dass die Pandemie in einem Jahr vorbei ist? Nein. Das heißt, ich kann es hoffen. Aber es wird nicht so sein. Jetzt fragt mich ein Journalist vor einigen Wochen: „Das muss doch irgendwann mal vorbei sein.“ Warum muss das irgendwann mal vorbei sein? Dieser Virus wird vielleicht nie wieder aus der Weltgeschichte herausgehen. Wir können den noch nicht mal töten, weil er kein Leben hat. Wir können ihm nur die Nahrung entziehen. Mit dem müssen wir leben. Wenn der Impfstoff kommt, gut, aber wir wissen trotzdem nicht, ob wir nicht weiterhin infektiös sind.

Diese innerweltliche Hoffnung ist für mich ganz nüchtern medizinisch, pharmazeutisch angeschaut. Die Hoffnung ist, dass ich mich in meiner Einsamkeit, in meinem Innersten an Gott wenden kann und hoffe, dass Gott, dass er und ich sozusagen, wir beide – ich an seiner Hand – durch diese Pandemie durchkomme. Also, an innerweltliche Hoffnung klammere ich mich schon längst nicht mehr fest. Da ist viel zu viel zerbrochen, auch in der Kirchengeschichte.

Das Hinschauen auf die Realität muss ja nicht zu einer Hoffnungslosigkeit führen. Im Gegenteil, wenn ich weiß, wenn der Nebel immer dichter wird, muss ich die Geschwindigkeit reduzieren, dann kann sich dadurch ja eine ganz neue Kenntniseben ergeben. Das ist ja nicht so, dass je genauer ich hinschaue, desto hoffnungsloser. Je genauer ich hinschaue, desto klarer kann ich sehen!

Die letzte Hoffnung ist die Anbindung an Gott oder meinetwegen an Jesus Christus, sodas ich sage: „So, Meister, jetzt wird es eng. Jetzt wird es dunkel. Jetzt wissen wir nicht weiter. Jetzt klammere ich mich an dir fest – das ist das Wort „glauben“, sich festmachen in Gott – jetzt weiche nicht von meiner Seite. Und jetzt gehen wir da irgendwie durch diese Pandemie hindurch.“ Das ist vielleicht ein kindlicher Glaube, aber das ist mein Zugang, der nichts zu tun hat mit einer innerweltlichen Hoffnung, die sich vielleicht nie erfüllt, weil das Leben endlich ist, weil die Pandemie so schnell nicht aufhört. Aber die innere Anbindung, da würde ich sagen, daraus kann man Kraft schöpfen. Und das ist auch das, was der Begriff „glauben“ meint. Glauben heißt nicht, irgendwelche Sätze auswendig lernen, sondern sich festmachen in Gott, wie das von Abraham heißt. Und je größer die Krise, je schneller das Karussell sich dreht, desto mehr muss man sich in der Mitte festmachen, sonst wird man herausgeschleudert.

Das Interview führte Katharina Geiger.

Das Interview ist Teil des Podcasts Himmelklar – ein überdiözesanes Podcast-Projekt koordiniert von der MD GmbH in Zusammenarbeit mit katholisch.de und DOMRADIO.DE. Unterstützt vom Katholischen Medienhaus in Bonn und der APG mbH. Moderiert von Renardo Schlegelmilch und Katharina Geiger.


Prof. Matthias Beck / © Harald Oppitz (KNA)
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Himmelklar (DR)
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