Auf den ersten Blick ist es eine Bücherei wie jede andere auch. Buchrücken an Buchrücken. Ein langes Regal reiht sich an das nächste. Doch auf den zweiten Blick wird klar, dass an dieser Bibliothek etwas anders ist. Die Seiten aller Bücher sind weiß. Kein Wort steht darin. Und doch sprechen sie Bände. In der Bücherei des deutschen katholischen Blindenwerks, das es seit 50 Jahren gibt, stehen die Schmöker in Brailleschrift.
Louis Braille erfand die Blindenschrift
Die Schrift besteht aus Punktmustern, die, meist von hinten in das Papier gepresst, mit den Fingerspitzen als Erhöhungen zu ertasten sind. Blinde Menschen können so lesen. 1825 erfand der Franzose Louis Braille (1809-1852) die heute weltweit verbreitete Blindenschrift.
"Wir wollen, dass die Literatur und all die schönen Geschichten Menschen mit Sehbehinderung nicht verschlossen bleiben", sagt die Leiterin der in Bonn ansässigen Blindenwerksgeschäftsstelle, Gundula Ebenig. "Der Bestand in der Bibliothek wächst zwar immer noch, es gibt aber einen eindeutigen Trend hin zu digitalen Hörbüchern", erklärt sie. Stolz zeigt sie das hauseigene Tonstudio.
Dort arbeitet Johannes Nonn. Der junge Tontechniker produziert zusammen mit teils professionellen Sprechern Hörbücher. "Anders, als man sich das vielleicht vorstellt, stellen wir keine Hörbücher im herkömmlichen Sinn her, sondern schlicht den gesprochenen Text als Audio-Datei", sagt er. Wie viele Werke das Blindenwerk durchschnittlich vertont, sei "schwer zu sagen". Buch sei nicht gleich Buch. Es brauche eben seine Zeit, um einen dicken Wälzer komplett zu vertonen.
Hörbücher und Blindenschrift-Bücher im Repertoire
Zum Repertoire gehören laut Ebenig spannende, unterhaltsame und informative Bücher aus allen Bereichen der Weltliteratur. Diese werden als Hörbücher und Blindenschrift-Bücher kostenlos an sehbehinderte und blinde Menschen ausgeliehen und portofrei mit der Post verschickt. Ein Schwerpunkt der Bibliothek sei die religiöse Literatur. Für theologisch Interessierte gebe es ein Extra-Angebot:
"Jeden Monat versenden wir eine CD mit den Texten des Stundengebetes sowie eine CD mit religiösen Zeitschriften", erläutert Ebenig.
Sie läuft wieder an den zahlreichen Regalen vorbei, eine Treppe hinab und betritt die Blindendruckerei. Es wummert und rattert kräftig, während Papierbänder aus einem Drucker quellen. Zwischen Stühlen, Kartons und Tischen sitzt Rami Alghawali. Mit seiner Braille-Zeile prüft der blinde Korrektor die in Blindenschrift übersetzten Texte vor dem Druck auf Fehler. Gibt er sein Okay, laufen die Geschichten, Romane und Dramen drei Meter rechts von ihm vom Band. Der rund 30.000 Euro teure Spezialdrucker stanzt das Papier spiegelverkehrt von beiden Seiten.
Heimatromane sind Dauerbrenner
Was aus der Weltliteratur gedruckt wird, entscheiden die Lektoren. Eine von ihnen ist Vanessa Klingseis-Wagner. "Wir orientieren uns natürlich an der Nachfrage unserer Leser und Hörer", betont sie.
Diese seien eher älter und hätten einen hohen Bildungsstand. "Ein Dauerbrenner sind Heimatromane", verrät sie mit einem Lächeln, während sie einen davon in "normaler" Schrift durchblättert.
Ein Stockwerk weiter oben arbeitet Britta Janaschke als Lektorin, nur am Computer. Sie ist ebenfalls blind. Mit dem Weg in die Arbeit und im Alltag hat sie, wie sie sagt, wenig Schwierigkeiten - dank Chelsea, ihrem Blindenhund. Sie fühle sich im Blindenwerk "richtig wohl", sie bewirke etwas für andere, getreu dem Motto "Blinde helfen Blinden", sagt sie.
Der gemeinnützige Verein hilft in Amerika, Europa, Asien und Afrika.
"Blinde Menschen in Deutschland haben es vergleichsweise noch gut erwischt", so Ebenig. In Teilen Afrikas gebe es kaum Hilfe, geschweige denn Förderung für Sehbehinderte. Dort seien die Menschen auf sich allein gestellt. "Um das etwas zu verbessern, koordinieren wir unsere spendenfinanzierten Projekte weltweit". Denn was Blindsein eigentlich bedeute, sei einem Großteil der Gesellschaft nicht klar.