Auf Fühlung mit dem Gotteshaus St. Michael in München

Den Kirchenraum be-greifen

Lichtdurchflutete Fenster, Weihwasserbecken, Kreuzigungsdarstellungen: In Kirchen gibt es viel zu bestaunen. Doch was ist, wenn man nicht sehen kann? In der Kirche St. Michael in München gibt es Tastführungen – nicht nur für Blinde.

Den Kirchenraum be-greifen / © Alexander Foxius (DR)
Den Kirchenraum be-greifen / © Alexander Foxius ( DR )

DOMRADIO.DE: Menschen tasten sich durch die Kirche, wo aber jede Menge Dinge herumstehen. Wie stellt man sich das vor?

Dagmar Bosch (Leiterin der Führungen in St. Michael, München): Wir dürfen das machen, wir haben natürlich um Genehmigung gefragt beim Kirchendirektor, dass wir mit Handschuhen einige Objekte anlangen dürfen, also begreifen dürfen. Menschen, die in die Kirche kommen und nicht sehen oder sehr schlecht sehen, haben auch andere Sinne als die Sehenden. Sie können ganz schnell den Raum erfassen, zum Beispiel dass er riesig groß ist. Dann geht es gleich an die erste Figur, das ist ein Großer Engel und es ist unglaublich, wie schnell die Leute die Flügel spüren und das Weihwasserbecken und somit ganz schnell alles erkennen können.

DOMRADIO.DE: Sie bieten die Führung größtenteils für blinde Menschen an. Es können aber auch Sehende teilnehmen und die bekommen dann eine Augenbinde, oder wie muss man sich das vorstellen?

Bosch: Ja, da hat man seine Dunkelbrille, eine Augenbinde, und man bekommt natürlich immer einen Begleiter dazu, der einen dann führt. Es ist ein großes Erlebnis, wenn man plötzlich gar nichts mehr sieht, man ist sehr unsicher und muss großes Vertrauen haben, dass der Begleiter einen führt und man nicht über die Stufen stolpert. Wir dürfen auch in den Altarbereich, da sind ja auch Stufen, die nach oben führen.

Man fühlt sich schon sehr unsicher, aber das ist eine sehr aufregende Sache. Wir gehen dann auch über weitere Sinne. Ich habe Duft dabei – Weihrauch kann man riechen. Und ich bringe immer Musik mit. Die Kirche St. Michael ist ja für den Michaelstag auch immer ganz wichtig. Am 29. September hören wir von Johann Sebastian Bach Teile aus der Michaelskantate, die er für diesen Feiertag extra geschrieben hat.

DOMRADIO.DE: Was ist denn bei den Sehenden die Motivation bei so einer Führung mitzumachen?

Bosch: Es geht darum, einfach mal zu erleben, wie das ist, wenn man wenig sieht. Wenn man älter wird, ist es oft so, dass die Menschen das Augenlicht verlieren. Jeder kennt jemanden in der Familie oder unter Kollegen, der nichts sieht oder sehr schlecht sieht. Sich dann einfach mal in diese Rolle einzufügen und zu sehen, wie ist das, kann eine sehr intensive Erfahrung sein.

DOMRADIO.DE: Und wie ist bislang so die Resonanz sowohl bei den Sehenden als auch bei den Blinden?

Bosch: Die Resonanz ist groß, die Leute sind begeistert. Sie sagen, dass sie es gerne mit Freunden mal erleben möchten, wie sich der Kirchenraum und die Kunst anfühlt. In der UN-Menschenrechtscharta Artikel 27 steht ja geschrieben, Kunst und Kultur zugänglich zu machen, also die kulturelle Teilhabe auch für Menschen mit Behinderungen oder für Blinde zu öffnen. Das ist eine ganz wichtige Aufgabe für uns.

Das Interview führte Tobias Fricke.


Quelle:
DR