DOMRADIO.DE: Sie haben sich wissenschaftlich mit diesem Thema beschäftigt. Was ist denn dran an dem Spruch "Not lehrt beten"?
Prof. Eva Harasta (Studienleiterin für Theologie, Politik und Kultur an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt e.V.): Das ist ja so ein Sprichwort eigentlich: "Not lehrt beten". Aber es hat durchaus etwas Wahres, denke ich. Wenn man eine Sorge hat oder Ängste, dann stößt man häufig einen Stoßseufzer aus. Das ist auch mitunter etwas Diffuses, was sich vielleicht gar nicht erst einmal an Gott wendet, aber trotzdem einen Wunsch ausdrückt. Sobald ich aber in die Sprache hineinkomme, dann sage ich es, spreche es aus – ich wünsche mir, ich bitte darum. Und dann geht es schnell in das Beten hinein.
DOMRADIO.DE: Welche Wünsche sind das ganz konkret, die die Menschen gerade ausdrücken?
Harasta: Aus dem Gefühl der Verunsicherung heraus ist das eine Bitte um Sicherheit, auch eine Fürbitte für die Menschen, die einem nahe stehen. Darin drückt sich auch die Sorge aus, dass jemand krank werden könnte. Auch die Sorge um andere Familien, die vielleicht schon einen Krankheitsfall haben.
Aber auch die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz oder die finanzielle Zukunft: Das sind Dinge, die einen Menschen tief bewegen, und die wollen dann auch hinaus – und nicht nur in das Gespräch mit anderen Menschen, sondern auch, wenn man es aus dem Glauben heraus betrachtet, in das Gespräch mit Gott.
DOMRADIO.DE: Und wo genau beten die Menschen – zu Hause? Oder suchen viele dann vielleicht doch auch die Gotteshäuser auf? Der Kölner Dom zum Beispiel ist ja noch für diejenigen geöffnet, die beten möchten.
Harasta: Wir sind ja jetzt eigentlich alle ins stille Kämmerlein hineingeworfen. Jesus sagt ja, dass man im stillen Kämmerlein beten soll, in der Isolation des Alleinseins. Aber es gibt auch dieses Bedürfnis, sich in die Gemeinschaft hinein zu begeben. Der Anfang dieses Bedürfnisses ist ja auch die Fürbitte, also an andere Menschen im Gebet zu denken, aber dann auch sozusagen gemeinsam vor Gott zu treten und die Lage in diesem weiteren Horizont vor Gott zu bringen. Ich denke, es ist eigentlich ein Urbedürfnis, dass man dieses Alleinsein durchbrechen möchte.
Das ist in der Bewegung des Gebets schon enthalten, weil ich ja eine Gemeinschaft mit Gott suche. Das ist ein sich Ausstrecken nach etwas, was das ganze Leben umfängt und behütet und einen anderen Blick auf die Notlage gibt, nämlich aus dem reinen Bitten heraus plötzlich auch anderes erkennen lässt. Die Bildungsbürgerlichen kann ich auch ansprechen und den Hölderlin zitieren: "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch". Man kann diese Erfahrung machen, gerade wenn man aus der eigenen Notlage heraustritt und die Ängste vor Gott bringt. Das kann in den sozialen Medien sein oder auch im Kölner Dom. Da ist es dann gleichgültig, wo man steht. Gott sieht ja in jeden Winkel des menschlichen Herzens – warum dann auch nicht in den Kölner Dom.
Da kann man den Blick weiten und sehen, da sind nicht nur die Sorge und die Not, sondern es gibt auch Grund für Dankbarkeit oder für Lob. Es ist auch gut, dies in die Gottesbeziehung hineinzuziehen oder sie auch einfach nur auszusprechen, sich daran zu freuen. Man sieht ja in den sozialen Medien jetzt auch einerseits die Bitten und Fürbitten, aber andererseits auch Klagemomente. Es gibt dann aber auch wiederum Alltagsbilder von einem Spaziergang, wo sich jemand freut an der Frühlingssonne. Jetzt mag man von außen sagen: Na ja, das ist doch banal – und wie kann man sich denn freuen an einer Frühlingssonne, wenn es derzeit eigentlich eine Notlage ist?
Aber für mich ist das eigentlich ein gutes Zeichen, wenn jemand versteht, dass er sich nicht gefangenen sein lässt in dieser Situation. Wenn man die Fesseln löst von den Ängsten, die einen da vielleicht bedrohen oder die auch durch die Medien transportiert werden. Beten ist dann eine Art Übung in der Freiheit und im befreit werden – so möchte ich es vielleicht nennen.
DOMRADIO.DE: Glauben Sie, die Menschen werden das Beten beibehalten, wenn diese Krise überwunden ist?
Harasta: Ich glaube schon. Menschen beten seit sehr langer Zeit. Die biblischen Texte zum Gebet, das Vaterunser oder auch die Psalmen als Schule des Betens sind sehr alte Texte und bezeugen, dass Menschen auch in ganz anderen historischen Notlagen oder auch Glückslagen immer schon das Bedürfnis gehabt haben, vor den höheren Horizont zu treten, ihre Sinnfragen nicht mehr mit sich selber abzuhandeln, sondern Gott ans Herz zu legen, wenn man so will.
Ich glaube schon, dass man weiter beten wird. Wie man weiter beten wird, weiß ich nicht. Es muss sich dann zeigen, ob diese Lage, die wir jetzt erleben, auch eine tiefe Veränderung zum Beispiel auch in der kirchlichen Art des Betens und des liturgischen Gebets, der Gottesdienstfeier bewirken wird, weil sich einfach das Lebensgefühl ändert.
Das Interview führte Verena Tröster.