Mit der Monstranz in den ausgestreckten Händen an der Spitze einer Prozession bittet ein Priester vor dem verriegelten Tor des Neustädter Rathauses in Prag um Gehör: Er fordert die sofortige Freilassung aller inhaftierten Brüder. Der Ex-Mönch Jan Zelivsky ist radikaler Aktivist der religiös-politischen Bewegung der Hussiten in Böhmen. Gegen das Verbot der Kirche praktizierten sie im Geist des Reformators Jan Hus die Kommunion "in beiderlei Gestalt" mit Laien.
Demonstration von Macht
Es sind Sekunden, die an diesem Sonntagmorgen, dem 30. Juli 1419, die Welt bewegen sollten: eine Glaubensspaltung im Herzen Europas. Ratsherren und Beamte hatten sich vorsorglich im Neustädter Rathaus eingeschlossen, als sie hörten, dass Zelivsky und seine Anhänger in der Pfarrkirche Sankt Stephan ein Abendmahl mit Laienkelch feierten.
Die Prozession war eine Demonstration von Macht, im Gewand einer frommen Veranstaltung. Ein Stein fiel, geschleudert gegen das allerheiligste Symbol der Hostie. Ob der Stein tatsächlich aus dem Rathaus geworfen wurde, wie die Hussiten behaupteten?
Offener Aufruhr gegen König und Kirche
Zelivsky und seine stramm organisierten Anhänger nutzten jedenfalls die Gelegenheit zum Sturm. Die Ratsherren wurden aus den Fenstern geworfen. Auf der Straße lynchten die Hussiten sie mit Hieb- und Stichwaffen, die die Prozessionsteilnehmer unter ihren Kleidern verborgen hatten. Im ersten Prager Fenstersturz war eine religiöse Reformbewegung mit tschechisch-nationaler Grundtönung in offenen Aufruhr gegen Königtum und Kirche umgeschlagen.
Jan Hus als Märtyrer verehrt
Mit dem Tod des Vorreformators Jan Hus auf dem Scheiterhaufen im Juli 1415 als Ketzer in Konstanz hatte die "kelchgläubige" Bewegung in Böhmen ihren "Nationalheiligen" gefunden - Märtyrer jener Revolution, die im Prager Fenstersturz 1419 explodierte. Hus war 1370 im südböhmischen Hussinetz geboren worden. Nach dem Studium in Prag machte er sich einen Namen als Prediger der dortigen Bethlehemkiche.
Er gewann nicht nur den böhmischen Adel für seine Kirchenreform, sondern erhielt breite Unterstützung in allen gesellschaftlichen Schichten, weil er sich für die nationalen Interessen der Tschechen im Reich stark machte. Besonders Hus' Forderung nach einer armen Kirche stieß auf offene Ohren.
Auch der Ablasshandel entzweite Hus vom Prager Erzbischof Zbynko und König Wenzel IV. Der Reformprediger wetterte von der Kanzel gegen die damals üblichen Geschäfte mit dem Nachlass zeitlicher Sündenstrafen.
Konzil von Konstanz
Hus steigerte sich so vom Kirchenkritiker zum Zensor höchster Autoritäten. Mit einem königlichen Geleitbrief, aber vom Kirchenbann geächtet trat der Prager Reformer 1414 vor das Tribunal des Konzils von Konstanz. Die Creme de la Creme der abendländischen Theologie richtete über ihn - und verurteilte den Kritiker mit seinen immer stärker national-tschechischen Zügen wegen Verletzung der Kirchendisziplin.
Verbotene "Kommunion unter beiderlei Gestalt"
Hus hat den Sonderweg der tschechischen Kirchenreform nicht mehr verlassen wollen. Noch während er sich in Konstanz rechtfertigte, feierten seine Anhänger in Prag die verbotene "Kommunion unter beiderlei Gestalt". Sie konnten sich auf die kleinen Gemeinden der frühen Kirche berufen, wo diese Art des Abendmahls die übliche Praxis war. Dazu passte die Berufung auf die Heilige Schrift, der Zugang zur muttersprachlichen Bibel auch für Laien, die freie, kirchlich unzensierte Predigt. Die Reformer wollten die scharfe Grenze zwischen Laien und Klerikern durchlässiger machen.
Hussitenkriege im kollektiven Gedächtnis Mitteleuropas
Der Aufruhr in Böhmen war unvermeidbar, als nach der Wahl von Papst Martin V. die hierarchische Kircheneinheit wiederhergestellt war. Mehrere verheerende Kreuzzüge gegen die Hussiten trugen den Krieg über die Landesgrenzen hinaus. Diese "Hussitenkriege" gruben sich tief ins kollektive Gedächtnis Mitteleuropas, bevor der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) eine noch tiefere Wunde der Erinnerung hinterließ.
Die "Hussiten" hatten keinen guten Namen - doch Martin Luther adelte sie als Vorläufer der Reformation. Von seinen Gegnern als "Hussit" verketzert, akzeptierte Luther 1520 nach anfänglichem Sträuben seine Rolle: "Wir sind alle Hussiten, ohne es zu wissen."