DOMRADIO.DE: Kardinal Woelki wird vom Papst ein halbes Jahr Auszeit gewährt. Sie sind Vatikan-Experte, sitzen in London, was denkt das Ausland?
Christopher Lamb (Vatikanexperte "The Tablet"): Der Fall zeigt, dass wir in der Kirche neue Ansätze der Führung brauchen. Das betrifft viele Bereiche, aber insbesondere den Kinderschutz. Kardinal Woelki werden keine konkreten Rechtsbrüche und keine Vertuschung vorgeworfen, aber trotzdem hat er Fehler im Umgang mit Missbrauchsfällen gemacht. Das zeigt, dass die Kirche eine synodale Reform braucht, um auch mit der Verantwortung der Bischöfe anders umzugehen. Es braucht einen viel gemeinschaftlicheren Ansatz, in dem auch die Laien eine Rolle spielen und der Bischof mit seinen Entscheidungen nicht nur auf sich alleine gestellt ist.
Auf der anderen Seite sieht man, dass Papst Franziskus anscheinend nicht jeden Ortsbischof von seinem Posten entfernen will, der Fehler im Umgang mit Missbrauchsfällen gemacht hat. Das würde dann ja zu einer riesigen Nummer an Rücktritten führen. Für mich ist die Entscheidung in Köln eine halbgare Lösung, um die Situation irgendwie zu befrieden. Ich weiß nicht, ob das funktionieren wird.
DOMRADIO.DE: Papst Franziskus schreibt sich ja die Missbrauchsaufklärung auf die Fahnen, unter anderem durch den großen Anti-Missbrauchs-Gipfel im Frühjahr 2019 und das daraus entstandene Dokument "Vos estis lux mundi", das ja gerade Bischöfe zur Verantwortung rufen will, in deren Diözesen es Missbrauchsfälle gegeben hat. Diese Regelungen scheinen im Fall Köln ja nicht zu greifen. Sind diese Richtlinien also unzulänglich?
Lamb: Ich denke, diese Regeln sollten konstant beobachtet und überarbeitet werden. "Vos estis" bezieht sich konkret auf Fälle, in denen der Bischof mit Missbrauchsfällen widerrechtlich im Sinne des Kirchenrechts gehandelt hat. Es geht um aktive Vertuschung und das Verhindern von Aufklärung. Ein wenig schwammiger wird es, wenn es um Fehler in der Kommunikation oder im Management der Prävention geht. Da gibt es Lücken.
"Vos estis" spricht zum Beispiel überhaupt nicht vom Fall, dass es in Bistümern unabhängige Missbrauchs-Gutachten gibt, und was passiert, wenn diese dem Bischof Fehlverhalten vorwerfen. Da muss also noch einiges passieren und genau deshalb braucht es eine neue Herangehensweise an kirchliche Verantwortung. Es braucht neue Rahmenbedingungen, neue Erwartungen an die Bischöfe. Im Moment geht es in "Vos estis" nur um Bischöfe, die aktiv vertuscht und die Gläubigen ihres Bistums in Gefahr gebracht haben, mit ihrem Handeln oder Nicht-Handeln.
DOMRADIO.DE: Was ja in Köln nicht der Fall ist. Schauen wir auf die internationale Perspektive, welche Wellen schlägt da der Fall Köln gerade?
Lamb: Was gerade in Deutschland im Allgemeinen und mit Kardinal Woelki im Speziellen passiert, hat weltkirchlich einen großen Einfluss. Man gibt einen Tonfall und eine Geschwindigkeit vor, wie mit der Verantwortung von Bischöfen umgegangen wird. Bei uns in England gab es den ähnlichen Fall mit Kardinal Vincent Nichols, dem auch Fehlverhalten bei der Aufklärung vorgeworfen wurde. Auch hier ging es nicht um konkrete Vertuschung. Aber die ganze Frage, wie man Bischöfe zur Rechenschaft zieht - und im Größeren, wie die Kirche auf den Missbrauchsskandal reagiert – da spielt Deutschland gerade eine sehr große Rolle. Da wird gerade sehr genau drauf geguckt.
Eine spannende Frage für die Weltkirche ist auch, welche Konsequenzen Woelkis Auszeit für den Synodalen Weg in Deutschland hat. Ob Rom vielleicht denkt, dass Woelki nach dem halben Jahr dort weiterhin eine wichtige Rolle spielen soll. Vielleicht braucht man ihn ja, um einen konservativen Gegenpol zur Mehrheitsmeinung in Deutschland zu stellen, um den Prozess für Rom im Rahmen der Lehre zu halten.
DOMRADIO.DE: In Deutschland gab es die letzten Tage und Wochen die wildesten Spekulationen. Das Ergebnis einer "Auszeit" hat heute dann doch viele überrascht. Sie auch? Wie haben Sie reagiert?
Lamb: Für mich ist das eine klassische Kompromisslösung, die das Problem nicht angeht, sondern erst mal Zeit und Raum schafft. Das ist typisch Papst Franziskus. Er bricht solche Entscheidungen ungern übers Knie. Ich denke schon, er hat so entschieden, um zu versöhnen, um Ruhe in die Situation zu bringen. Das ist eine ganz klassische römische Lösung für solch ein Problem.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.