Wenn die Kinder der Hamburger Wichern-Schule ihre tägliche Adventsandacht feiern, steht ein ganz besonderer Kranz im Mittelpunkt: Das aus Tannengrün geflochtene Rund hat 22 Kerzen und einen Durchmesser von über einem Meter. Es erinnert an den allerersten Adventskranz, der einst genau an dieser Stelle in Hamburg erfunden wurde.
Im Jahr 1839 kam der damals 31-jährige Hamburger evangelische Theologe und Pädagoge Johann Hinrich Wichern (1808-1881) auf die Idee, seinen Schützlingen die Vorfreude auf die Geburt Jesu an Weihnachten auf eine sinnlich wahrnehmbare Weise nahe zu bringen. Im sogenannten Rauen Haus, einem ehemaligen Bauernhaus, betreute er verwaiste und verwahrloste Kinder und Jugendliche aus Hamburger Elendsvierteln. Die Zeit, in der es immer dunkler und kälter wurde, sollte von den jungen Leuten dennoch als ein Weg des Lichts empfunden werden.
Gut dokumentiert
Wicherns schlichter Adventskranz bestand aus einem hölzernen Wagenrad, auf dem er für jeden Tag vom ersten Advent bis zum Heiligabend eine Kerze befestigte - dicke weiße für die Sonntage und dazwischen kleine rote für die Werktage. Geschmückt war das Rad mit einem breiten weißen Band und mit Tannenzapfen. An jedem Tag wurde eine zusätzliche Kerze entzündet. Erst 1860, mehr als 20 Jahre später, wurde der hölzerne Kranz mit Tannengrün geschmückt - Zeichen der Hoffnung und des Lebens. Weil die Dauer der Adventszeit in jedem Jahr unterschiedlich ist, variierte auch die Anzahl der Kerzen zwischen 22 und 28.
Die Geschichte ist also gut dokumentiert. Die These, dass der Adventskranz auf germanische Bräuche zurückgehe, ist laut Brauchtumsexperten eine Dichtung der deutschen Nationalbewegung. Die Gewohnheit aus Hamburg setzte sich langsam in ganz Deutschland durch, gefördert auch von der naturbegeisterten Jugend- und Kunsterzieherbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Ersten Weltkrieg schließlich erlebten viele Soldaten in Lazaretten, wie evangelische Schwestern den Adventskranz aufhängten.
"Freuet euch"
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hielt der Adventskranz Einzug in die bürgerlichen Wohnstuben. Dazu musste er kleiner werden: Man verzichtete deshalb auf die Werktags-Kerzen. Das ehemals evangelische Symbol wandelte sich langsam auch zu einem überkonfessionellen: 1925 soll in einer katholischen Kirche in Köln erstmals ein Adventskranz gehangen haben.
Heute gehören Adventskränze in fast allen Kirchen und Wohnungen zum vorweihnachtlichen Schmuck. In katholischen Gotteshäusern ist es zum Teil üblich, den Kranz mit drei violetten Kerzen und einer rosa Kerze auszustatten. Das Violett ist die liturgische Farbe des Advents, der früher auch eine Bußzeit war. Die rosa Kerze wird am dritten Adventssonntag, dem Sonntag Gaudete (lateinisch für "Freuet euch") entzündet.
Gedenken
Im Hamburger Rauen Haus, das bis heute besteht und unter anderem Träger der Wichern-Schule ist, hält man mit Stolz das Gedenken an den historischen Adventskranz aufrecht: "Genau wie damals warten die Kinder heute immer noch auf Weihnachten", sagt Vorsteher Friedemann Green. "Der Wichern-Adventskranz ist eine wunderbare Art, um die jungen Leute anzusprechen." Weil die Adventszeit in diesem Jahr besonders kurz ist, steckt gerade einmal die Mindestanzahl von 22 Kerzen auf dem Kranz; fast ein Viertel bleibt frei.
Die Originalversion des Adventskranzes ist übrigens nicht nur im Rauen Haus zu finden: Seit 2008 steht jedes Jahr ein Exemplar im Deutschen Bundestag, seit 2012 auch im Hamburger Rathaus. Im niedersächsischen Lüneburg schwebt sogar eines über den Dächern der Stadt. Die dortige Variante ist aus Aluminium gefertigt und gilt mit 13 Metern Durchmesser als eine der größten in Europa. Der Clou an dem 1,5 Tonnen schweren Lüneburger Wichernkranz: Mit einer SMS oder per Anruf können seine roten und weißen Lichter weithin sichtbar für einen guten Zweck zum Leuchten gebracht werden. Die Einnahmen gehen in diesem Jahr an ein Bildungsprojekt für Flüchtlingskinder.