Sie sind Superstars der Genforschung. Sie galten schon seit ein paar Jahren als Anwärterinnen auf den Nobelpreis. Am Mittwoch hat die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften diese Erwartungen erfüllt: Der Nobelpreis für Chemie geht an die derzeit in Berlin arbeitende französische Mikrobiologin Emmanuelle Charpentier (51) sowie an die US-amerikanische Biochemikerin Jennifer A. Doudna (56).
Ihre Erfindung hat Euphorie ausgelöst. Die Rede ist von einer Revolution in der Genforschung, die binnen weniger Jahre die Labors in den Lebenswissenschaften und die medizinische Forschung erobert hat. Beide Wissenschaftlerinnen haben die sogenannte Genschere Crispr/Cas entwickelt. Mit ihr können Wissenschaftler das Erbgut von Pflanzen, Tieren und Menschen weit gezielter verändern als bislang.
Bei Bakterien abgeschaut
Ursprünglich ist die Methode Bakterien abgeschaut. Sie haben eine Art Immunsystem entwickelt, mit dem sie Angriffe von Viren abwehren können. 2012 hatten Charpentier und Doudna die Idee, daraus ein molekularbiologisches Werkzeug zu entwickeln: Durch die mit einer "Hochpräzisions-Schere" verglichene Technik können einzelne Gene oder kleinste DNA-Bausteine eingefügt, verändert oder ausgeschaltet werden. Es lassen sich also nicht nur unerwünschte Eigenschaften ausmerzen, sondern auch erwünschte hinzufügen.
Anders als bei früheren Genmanipulationen, bei denen artfremde Gene in eine Zelle eingebracht wurden, ist die Veränderung mit Crispr/cas nicht mehr nachzuweisen. Deshalb wogt ein Streit darüber, ob es sich um Gentechnik handelt: 2018 entschied der Europäische Gerichtshof, dass die neuen Verfahren den gleichen Zulassungs- und Kennzeichnungsvorschriften unterliegen wie gentechnisch veränderte Organismen.
Technik bereits bei Pflanzen angewandt
"Ich denke, das wirklich Faszinierende an dieser Entdeckung ist, dass wir die Mechanismen des Lebens verstehen wollten und dabei etwas gefunden haben, das man in der Biologie, in der Biotechnologie und in der Biomedizin einsetzen kann", so Charpentier im Jahr 2016 in einem Fernsehinterview. Die Französin, die Biochemie und Mikrobiologie in Paris studiert hat, war von 2013 bis 2015 Professorin in Hannover und arbeitete am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. 2014 erhielt sie eine Alexander von Humboldt-Professur.
2015 bis 2018 war sie Direktorin am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin. Seit 2018 ist Charpentier Gründungs- und kommissarische Direktorin der Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene in Berlin. Doudna wuchs in Hawai auf und lehrt an der University of California in Berkeley.
Angewandt wird die neue Technik bereits bei Pflanzen: Wissenschaftler und Agrarkonzerne arbeiten an Sorten, die besonders hohe Erträge haben und schlechtem Wetter oder Schädlingen widerstehen können. In der Medizin erwarten Forscher, dass menschliche Gendefekte repariert und Erkrankungen wie HIV, Malaria oder Mukoviszidose verhindert werden können. Erste Studien an Patienten haben begonnen.
Eingriffe auf menschliche Keimbahn
Auch Eingriffe in die menschliche Keimbahn rücken näher - und das ist ein Problem. Denn solche Erbgutveränderungen haben Auswirkungen auf alle künftigen Generationen. 2015 berichteten chinesische Forscher erstmals, menschliche Embryonen mit "Crispr/cas" genetisch verändert zu haben. Die Embryonen wurden aber nicht weiterentwickelt oder eingepflanzt. 2018 teilte dann ein chinesischer Wissenschaftler mit, er habe das Erbgut von gerade zur Welt gekommenen Zwillingsmädchen im frühen Embryonen-Stadium mit Hilfe der Genschere verändert.
Auch Charpentier hat deshalb 2019 eine Erklärung von Wissenschaftlern aus 7 Ländern unterzeichnet, in der ein Moratorium für solche medizinischen Eingriffe in die menschliche Keimbahn gefordert wird.
Die Anwendung sei erst denkbar, wenn auch die langfristigen Auswirkungen verstanden seien. Forschung soll allerdings weiter stattfinden. Auch an Crispr/cas wird weiter geforscht. Britische Wissenschaftler vermuten, dass die Genschere möglicherweise doch nicht so zuverlässig arbeitet, wie bisher behauptet.