DOMRADIO.DE: Frau Dr. Lücking-Michel, die Personalagentur AGIAMONDO lebt von einem regen Austausch mit Menschen in allen Teilen der Welt. Denn es geht um die Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen vor allem auf den Kontinenten Afrika, Asien und Südamerika, die mit Impulsen von außen Förderprogramme zum gesellschaftlichen Zusammenleben anstoßen und realisieren. Ziel ist immer, Perspektiven zu eröffnen und das Leben von Menschen, die oft um ihre Existenz unter erschwerten Bedingungen kämpfen, gesundheitlich, sozial und wirtschaftlich zu verbessern. Wie hat sich im Corona-Jahr Ihre Arbeit verändert?
Dr. Claudia Lücking-Michel (Geschäftsführerin von AGIAMONDO): Die ersten Auswirkungen der weltweiten Krise bekamen wir zu spüren, als Fachkräfte, die von ihren Einsätzen vorübergehend nach Deutschland zurückgekehrt waren, nicht wieder in Staaten wie Haiti oder Israel einreisen durften. Doch dann war schnell klar, auch vor Ort verschlechtert sich deren Lage gravierend. Alles war zunächst sehr unübersichtlich. Innerhalb kürzester Zeit wurden Grenzen geschlossen, Flüge gestrichen, Einreisebestimmungen geändert. Eine Fachkraft beispielsweise, die im Rahmen ihrer Arbeit in Togo war, konnte plötzlich nicht an ihren Dienstort nach Kamerun zurück. Solche Veränderungen können sich auch auf die Sicherheit der Fachkräfte auswirken. Wir haben also umgehend jeden in seiner individuellen Situation unterstützt. Schließlich haben wir Verantwortung für die Menschen, die wir entsenden, und müssen Sicherheitsstandards einhalten.
Während andere Entwicklungsdienste gleich im März bei Ausbruch der Pandemie alle ihre Fachkräfte nach Deutschland zurückgeholt haben, haben wir uns gegen eine pauschale Rückrufaktion entschieden und es ins Ermessen jeder und jedes Einzelnen gestellt, ob sie oder er vor Ort bleiben oder das Angebot von Außenminister Maas annehmen will, sich in eine Maschine nach Deutschland bzw. einen anderen europäischen Zielflughafen zu setzen. In der Tat wollten viele Fachkräfte ihre Partnerorganisationen gerade in den stark von Corona betroffenen Gebieten nicht im Stich lassen und haben argumentiert: "Jetzt erst recht. Nicht auszuharren wäre ein unwiderruflicher Vertrauensverlust." Es zeigte sich schnell ein hohes Maß an Idealismus, gepaart mit einer großen Solidarität. Aber in Ländern wie der Zentralafrikanischen Republik, wo die Lage ohnehin schon unsicher ist und die Grenzschließungen ein zusätzliches Sicherheitsrisiko darstellten, haben wir die dortigen Fachkräfte umgehend aufgefordert, das Land zu verlassen. Allein schon um unserer Fürsorgepflicht nachzukommen.
DOMRADIO.DE: Es gab ja auch Fachkräfte, die selbst zur Risikogruppe gehörten, große Angst vor Ansteckung hatten und daher zurückkommen wollten…
Lücking-Michel: Genau. Das Gesundheitsrisiko bestand ja nicht allein aufgrund einer möglichen Infektion, sondern auch wegen der recht schnellen Überlastung der Krankenhäuser und einem möglichen Zusammenbruch des gesamten Gesundheitssystems. Etwa ein Drittel unserer Fachkräfte hat sich dann entschieden zurückzukommen. Wobei sich das Angebot des Außenministeriums mit seiner Rückholaktion nicht ohne Komplikationen gestaltete. Manche warteten tagelang vor ihren Gates auf einen Flug. Immer mit der Angst, womöglich den letzten Flieger, die letzte Gelegenheit auszureisen, zu verpassen. Es gab Wochen, in denen wir vor allem mit der Organisation dieser Rückholaktion beschäftigt waren. Unser gesamtes Haus hier in Deutz war völlig damit blockiert und musste für viele Ankommende als Notunterkunft herhalten. Wer zurückkehrte, wusste ja erst einmal gar nicht wohin, weil er wegen einer übereilten Abreise bei seiner Ankunft in Deutschland keine Bleibe hatte; manchmal hing eine komplette Familie daran.
Außerdem haben wir Homeoffice-Plätze geschaffen, damit der Kontakt mit den Partnerorganisationen nicht abbrach und weitergearbeitet werden konnte. Zum Glück haben auch unsere Partner vor Ort ihre Arbeitsweise sehr schnell auf digitale Kommunikation umstellen können und sich den neuen Gegebenheiten angepasst. Wir alle waren ja gefordert, neue Kommunikationsstrukturen zu schaffen. Entlastend in dieser Situation war die große Unterstützung durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ), das auf der Grundlage des Entwicklungshilfegesetz sehr offen mit dem Aufenthalt der Fachkräfte in Deutschland umgegangen ist, diese verlängert hat und damit eine große Hilfe war.
DOMRADIO.DE: Was war die prägendste oder auch schmerzlichste Erfahrung in dieser Zeit?
Lücking-Michel: Sehr beeindruckt hat mich die Kreativität vieler Menschen, die von dem Virus besonders stark betroffen waren, trotzdem aber zuversichtlich geblieben sind. Manchmal haben sie unsere Fachkräfte regelrecht mitgerissen. So gibt es eine ganze Reihe toller Hygieneprogramme, die die Partnerorganisationen auf die Beine gestellt haben, dass man nur sagen kann: Alle Achtung! Auch viele gute Beispiele für Bildungsprogramme, die trotz Corona funktioniert haben, gibt es. Da hat die Krise eine Menge Energien freigesetzt und die Solidarität miteinander noch einmal sehr gestärkt. Viele haben sich gesagt: Jetzt nur nicht weglaufen!
Besonders schmerzlich dagegen war die Erfahrung zu erleben, auf welch unsicheren Füßen unsere Arbeit steht. Wie zerbrechlich unser Dasein ist. Die Pandemie hat noch einmal die bereits bestehenden Ungerechtigkeiten schonungslos offengelegt und auch verstärkt. Denn mit Blick auf das Gesundheitssystem möchte man in einer derart bedrohlichen Situation lieber in Deutschland als fast überall woanders auf der Welt sein. Daher: Weltweite Solidarität ist angesichts eines solchen Ausnahmezustands wichtiger denn je. Das müssen auch viele andere so empfunden haben. Jedenfalls gingen die Bewerberzahlen für die Fachkräfteeinsätze wider Erwarten nicht nach unten, sondern nach oben. Wir rechnen ja in Fachkraftmonaten. Und da haben wir im Coronajahr 2020 deutlich zugelegt und konnten am Ende insgesamt 250 Monate mehr als im Vorjahr verzeichnen.
DOMRADIO.DE: Von jetzt auf gleich mussten Sie lernen, ausschließlich auf digitale Kommunikation zu setzen. Welche Vor- und Nachteile hatte das?
Lücking-Michel: Wir arbeiten ja auf drei Ebenen: Da ist der normale Geschäftsbetrieb, der Bildungsbetrieb – das heißt, die Kurse zur Vorbereitung auf die Auslandstätigkeit und damit wichtiger Teil unserer Arbeit – und der Kontakt zu unseren Fachkräften und Partnern. Wir haben festgestellt, was übers Internet alles geht. Viele bewegen sich völlig souverän in diesen digitalen Welten. Mit einem Mal schalteten sich Fachkräfte aus Hanoi, Assam oder Nairobi zu unseren Gottesdiensten hier in Köln dazu, was eine ganz dichte Atmosphäre geschaffen hat: als wären sie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesem Haus. Das hat für eine ganz andere Verbundenheit gesorgt. Auf diese Weise haben sie außerdem unmittelbarer von ihrer Arbeit berichten können.
Aber natürlich hat uns diese digitale Kommunikation auch gezeigt, was alles fehlt. Wenn ich da an das Sicherheitstraining denke, wo wir mit Rollenspielen arbeiten und auch ein Erste-Hilfe-Training fester Bestandteil ist. Am Bildschirm lässt sich so etwas nicht simulieren. Auch die Vorbereitung auf den Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit, was zum Beispiel ein großes Thema für Fachkräfte in Kolumbien oder Uganda ist und wo es um ganz intensive emotionale Auseinandersetzungen geht, eignet sich nicht – wie überhaupt das sensible Themenfeld Versöhnung nicht – für eine Verlagerung ins Internet. Da sind wir deutlich an die Grenzen digitaler Möglichkeiten gestoßen. Trotzdem konnten viele Vorbereitungsmaßnahmen auf diese Weise stattfinden und Fachkräfte dann auch ausreisen.
DOMRADIO.DE: Welche Erkenntnis bleibt?
Lücking-Michel: Wir haben grundsätzlich die Bedeutung von persönlicher Begegnung, zu der ja gehört, dass man Leben miteinander teilt, Vertrauen aufbaut und nachhaltige Verbindungen schafft, neu erlebt. Letztlich zehrt die über weite Teile der Welt hinweg effektive Homeoffice-Arbeit eigentlich von Beziehungen, die vorher persönlich im Land selbst aufgebaut worden sind. Corona war der Praxistest. Von heute auf morgen mussten viele Fachkräfte aus dem Homeoffice mit den Partnern oder Zielgruppen zusammenarbeiten. Ich denke da an eine Fachkraft in Israel, die einen Debattierclub mit Schülern gestalten musste, oder an das Landesprogramm des Zivilen Friedensdienstes in Liberia, das mit Partnern über Radio Aufklärungsarbeit betrieb. Fazit: Digitale Kommunikation eröffnet viele, viele Chancen und ungeahnte Möglichkeiten, ersetzt aber auf keinen Fall den unmittelbaren Kontakt: die Begegnung von Mensch zu Mensch.
DOMRADIO.DE: Nicht überall verfügen einzelne Bevölkerungsgruppen – gerade in ländlichen Gebieten – über die notwendige Infrastruktur bzw. haben einen Zugang zu digitaler Kommunikation und den entsprechenden Instrumenten. Mit anderen Worten: Nicht alles lässt sich per Zoom lösen. Was ist da auf der Strecke geblieben?
Lücking-Michel: Wie gesagt: Nichts ersetzt die Interaktion und persönliche Arbeit mit Menschen vor Ort. Trotzdem bietet die Digitalisierung die Chance, die Lebensbedingungen vieler Menschen durch Zugang zu Wissen und neuen Wegen der Teilhabe zu verbessern. An manchen Stellen ist auf diese Weise sehr viel mehr möglich, als man denkt. Nicht immer mangelt es an der notwendigen Infrastruktur. Unsere Partnerorganisation PODION in Kolumbien zum Beispiel macht mit Radiosendungen, virtuellen Workshops und Kunst auf Hauswänden auf Umweltkonflikte aufmerksam. Aber digitale Kommunikation birgt hier auch Gefahren. Wer sich in Kolumbien sozial oder politisch gegen Rohstoffabbau und Abholzung engagiert, wird häufig bedroht oder sogar ermordet. Das Team von PODION versucht, die Menschen aus den Landgemeinden daher trotzdem auch persönlich zu treffen und darüber hinaus kreative Lösungen zu finden, um sich auf Distanz zu vernetzen und Gehör zu verschaffen.
Die Organisation Kaji Batz in Guatemala, auch ein Projektpartner im Zivilen Friedensdienst, hat mit Jugendlichen einen virtuellen Videokurs zum Thema Menschenrechte durchgeführt. Das Interesse war riesig, aber eine Hürde war der wackelige Internetzugang in den oft abgelegenen indigenen Gemeinden. Der Vorteil: Die meisten Jugendlichen haben ein Handy. Ihre Guthaben wurden über die Projektleitung aufgeladen und Gelder, die ursprünglich für Anreise zu Workshops und Essen eingeplant waren, fanden eine neue sinnvolle Verwendung. Aber klar: Wer kein Smartphone oder Internet hat, kann viel schwerer integriert werden.
DOMRADIO.DE: Gibt es Länder, in denen die Pandemie besonders gewütet hat, und Partnerorganisationen bzw. Projekte, zu denen Sie erst einmal keine Fachkräfte entsenden konnten, weil das wegen eines erhöhten Risikos nicht verantwortbar gewesen wäre?
Lücking-Michel: Fachkräfte haben immer schon in Kontexten mit erhöhten Risiken gearbeitet. Wir haben bereits ein etabliertes Sicherheitsmanagement, das auf diese Risiken eingeht. Und gerade in Konflikt- oder Postkonflikt-Situationen ist es wichtig, das Bewusstsein für Gefahren zu schärfen und präventive Maßnahmen zu stärken. Zusätzlich haben wir daher in der Pandemie gezielte Präventionsmaßnahmen entwickelt. Mittlerweile gibt es – gemeinsam mit den anderen sieben Diensten, über die das BMZ Fachkräfte in den globalen Süden entsendet – auch einen Kriterienkatalog für eine verantwortliche Personalvermittlung. Darin geht es um diese Fragen: Wie hoch ist der Inzidenzwert in dem jeweiligen Land? Was sind individuelle Risikofaktoren der Fachkräfte? Gäbe es im Bedarfsfall eine vernünftige medizinische Versorgung? Wie sind die Quarantänebedingungen? Zudem haben wir medizinische Beratungsangebote, bei denen man sich vor einer Ausreise gezielt über Covid-Präventionen informieren kann.
DOMRADIO.DE: Bei der Vermittlung von Fachkräften in den globalen Süden geht es immer um Teilhabe, Entwicklung und Integration. Konnten Sie diese Ziele trotz Corona weitestgehend umsetzen? Wie fällt da Ihre Bilanz aus?
Lücking-Michel: Die Pandemie hat es uns schwer, aber nicht unmöglich gemacht, unserem Auftrag nachzukommen. Die Partnerorganisationen haben zum Teil ihre Arbeit umgestellt, um speziell in der weltweiten Krise Unterstützung zu leisten. Der Wechsel zu digitalen Kommunikationsformaten verlief nicht reibungslos, aber die meisten Fachkräfte konnten ihre Partnerorganisationen weiter unterstützen, auch von Deutschland aus. Dabei muss man betonen: Die Pandemie ist eine Bedrohungslage, aber kein Erdbeben, bei dem jegliche Infrastruktur von jetzt auf gleich zusammenbricht. Trotzdem wurde die Lage mancherorts individuell als sehr riskant erlebt, und das haben wir ernst genommen. Für die zurückgekehrten Freiwilligen hat die FID-Fachstelle für internationale Freiwilligendienste Nachbereitungskurse angeboten, um die Enttäuschung und die Trauer aufzufangen, wenn sie plötzlich ihren Aufenthalt abbrechen mussten. Also, an mancher Stelle mussten wir Einschränkungen in Kauf nehmen. Aber zu keiner Zeit war unser Engagement völlig unterbrochen. Im Gegenteil: Unsere Arbeit hat der Welle standgehalten. Unterm Strich haben wir in dieser Krise sogar viel voneinander gelernt.
DOMRADIO.DE: Der digitale Fortschritt lässt sich nicht zurückdrehen. Sie kommunizieren heute anders miteinander als vor Corona. Was bedeutet das für die Zukunft von AGIAMONDO?
Lücking-Michel: Ganz nach dem Paulus-Wort „Prüft alles und behaltet das Gute“ werden wir das, was wir im letzten Jahr an virtuellen Formaten installiert haben oder an digitaler Kommunikation im Homeoffice entwickelt wurde, beibehalten und mehr auf Hybrid-Veranstaltungen setzen, aber nach Lockerungen des Shutdowns auch das in Präsenz wieder durchführen, was eben nur live möglich ist. Da sind wir insgesamt viel flexibler geworden, zumal wir das mit unseren Partnerorganisationen nun schon mal eingeübt haben. Auch unsere Fachkräfte kooperieren jetzt auf vielfältigeren Wegen. In vielen Arbeitsbereichen haben sich ganz neue Türen geöffnet. Von dem, was wir unter großem Druck gelernt haben, werden wir also viel beibehalten. Denn bei allem hat sich gezeigt: In Beziehung bleiben ist das Wichtigste.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.