Not lehrt Beten, sagt der Volksmund. Vor allem nach Terroranschlägen und Verkehrsunfällen mit vielen Toten sind die Kirchen auch heute gefragt. In einem Forschungsprojekt hat die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Erfurt Chancen und Risiken von "Trauer und Gedenken nach Großkatastrophen" ausgelotet. Experten zogen am Freitag in Thüringens Landeshauptstadt Bilanz.
Millionenpublikum auch vor den Bildschirmen
Trauergottesdienste nach "Großschadensereignissen" gab es schon immer, wie Projektleiter Benedikt Kranemann einräumt. Doch die gesellschaftlichen Erwartungen an solche Veranstaltungen haben sich vervielfacht, so der Erfurter Liturgiewissenschaftler. Und ein Millionen-Publikum kann vor dem Bildschirm dabei sein, "wenn Deutschland trauert".
Es geht nicht mehr nur darum, Trost oder sogar eine Erklärung aus dem christlichen Glauben zu finden. Die Kirchen sollen auch auf die wachsende Zahl der Menschen eingehen, die sonst kaum oder keinen Kontakt zu ihnen haben. Nicht nur bei einem Terroranschlag mit islamistischem Hintergrund sollten auch Muslime - und Vertreter anderer Religionen - mitwirken, wie der Erfurter Politologe Alexander Thumfart rät, um der multikulturellen Gesellschaft gerecht zu werden.
Glaubensvielfalt wird umgesetzt
Ein prägnantes und zugleich umstrittenes Beispiel dafür war eine Muslimin in der Münchner Frauenkirche. Bei der Gedenkfeier für den Amoklauf von 2016 mit zehn Toten rief sie in einem Fürbittgebet mehrfach "Allah" an und legte damit ein klares Bekenntnis ihres Glaubens ab. Ähnlich wirkte ein Vertreter der Jüdischen Gemeinde mit.
Nach Auffassung des Münchner Liturgiewissenschaftlers Winfried Haunerland kam damit eine "Unwucht" in die sonst christlich geprägte Andacht. Zugleich räumt er ein, dass in der Öffentlichkeit vor allem die Beteiligung der Muslimin positiv ankam und Kardinal Reinhard Marx seine Bischofskirche ausdrücklich für alle trauernden Münchner geöffnet hatte.
Gottesdienst im Kölner Dom zum Germanwings-Flugzeugabsturz
Nicht selbstverständlich ist für Theologen auch die Mitwirkung einer anderen Muslimin am Gottesdienst im Kölner Dom für die 150 Toten des Germanwings-Flugzeugabsturzes von 2015. Die Fürbitte der Frau, die Angehörigen beigestanden hatte, war in eine Reihe anderer integriert.
Es ist ein besonders prägnantes Beispiel für die Schwierigkeit, den christlichen Charakter einer solchen Feier deutlich zu machen, ohne andere Religionen zu vereinnahmen.
Viele Fragen des Protokolls zu klären
Der Osnabrücker Liturgiewissenschaftler Stephan Winter sieht in der "existenziellen Erschütterung" des jeweiligen Falls einen Maßstab, neue multireligiöse Modelle zu wagen. In Köln war jedoch kein Experiment geplant. Die anderen Unfall-Helfer hatten die Beteiligung ihrer muslimischen Kollegin an der Andacht zur Bedingung gemacht, wie Alexander Saberschinsky, Liturgiereferent des Erzbistums Köln, betont.
Wünsche und Auflagen kommen auch vom Staat. Zwar eröffnet er den Religionsgemeinschaften in Deutschland weitestgehende Freiräume, wie der Kirchenjurist Ansgar Hense klar stellt. Doch wenn kirchliches und staatliches Opfergedenken aufeinander treffen wie Anfang 2005 im Berliner Dom nach dem Tsunami in Südostasien, sind viele Fragen des Protokolls zu klären, so Karsten Hettling, der im Bundesinnenministerium dafür verantwortlich ist. So achtet er auf getrennte Lesepulte für Ansprachen, um die Trennung von Staat und Kirche zu symbolisieren.
Kerzen als vereinendes Symbol
Trotz vielfältiger Einflussnahmen hat sich ein "Grundmodell" solcher Gedenkandachten "herauskristallisiert", wie Projektleiter Kranemann bilanziert. Außer biblischen Texten und Segenshandlungen spielen dabei Kerzen eine zentrale Rolle. Sie sind religiös, aber auch nur als "Licht in der Dunkelheit" interpretierbar.
Erfahrungen mit solchen Ritualen machen nicht nur die Kirchen. So haben das Erfurter Gutenberg-Gymnasium seit dem Amoklauf von 2002 und die Lufthansa seit dem Germanwings-Absturz individuelle Formen des Gedenkens mit Betroffenen entwickelt. "Sie müssen an erster Stelle stehen", betonen Schulleiterin Christiane Alt und Markus Hoffmann, der Beauftragte der Fluggesellschaft.