"Das Erfurter Ursulinenkloster war eine kleine Insel der Menschlichkeit in einer antisemitisch verseuchten Zeit", konstatiert die Direktorin der Städtischen Geschichtsmuseen Erfurt, Annegret Schüle. Sie sitzt in der Bibliothek des Klosters, vor ihr auf dem Tisch alte Karteikarten, Aktenblätter und ein frisch erschienenes Buch. Es hat ein bislang unbekanntes Kapitel Erfurter Stadtgeschichte ans Licht der Öffentlichkeit gebracht.
"Wie außerdem bekannt ist, gehören verschiedene Jüdinnen der Schule an", lautet der Titel des Werks, das am Mittwoch in der thüringischen Landeshauptstadt vorgestellt wurde. Es zeigt, dass die Nonnen in ihrer Klosterschule von 1933 bis zur Zwangsschließung 1938 insgesamt 21 verfolgten jüdischen Mädchen einen Schulbesuch ermöglichten. Autorin ist die Historikerin Andrea Wittkampf vom Archiv des Bistums Erfurt. Ihre Recherchen deckten auf, wie die Nationalsozialisten das Kloster der Ursulinen und die Schule, die etwa 360 Mädchen pro Jahr besuchten, massiv bespitzelten und nach Gründen suchten, sie zu schließen.
Für den nationalsozialistischen Staat "untragbar"
In einem Gutachten für die Schließung der Ursulinenschule hielt NSDAP-Kreisleiter Franz Theine am 12. November 1937 fest, dass die Schule für den nationalsozialistischen Staat "untragbar" sei: "Nicht nur weil sie deutsche Mädel in ihrer charakterlichen und seelischen Haltung restlos nach Rom hin umbiegt, sondern weil die St. Ursula-Schule und ihre Lehrerinnen die ihnen anvertrauten jungen Menschen undeutsch erziehen, sie von der Gemeinschaft des Volkes abschließen und sie damit dem Leben unserer Gemeinschaft entziehen."
Eher zufällig stieß Wittkampf auf die Unterlagen, wie sie berichtet. Als die Ursulinen im Frühjahr 2016 aufgrund von Baumaßnahmen ihr Klosterarchiv an das Bistumsarchiv übergaben, begann die Historikerin mit der Sichtung und elektronischen Erfassung. Darunter war eine Reihe Holzkästen mit den Meldekarten der Schülerinnen. Bei den Karten aus der Zeit ab 1930 wurde Wittkampf plötzlich stutzig: "Auf zwei hintereinander einsortierten Karten stand 'nach Holland gezogen'. Beim genaueren Ansehen fiel die Benennung der jüdischen Religion auf. Unweigerlich kam mir Anne Frank in den Kopf. Mein Interesse war geweckt, und die Suche begann."
Englischsprachige Kopie der Autobiografie
Besagte Karteikarten gehörten zu den Schwestern Eva und Hanna Herzberg, die in der Tat später in Amsterdam mit Anne Frank zeitgleich das dortige jüdische Gymnasium besuchten. Als Wittkampf sich bei ihren Forschungen an Jutta Hoschek vom Arbeitskreis "Erfurter GeDenken 1933-1945" wandte, stellte sich überdies heraus: Das Stadtarchiv verwahrt eine englischsprachige Kopie der Autobiografie von Hanna Herzberg, die nach dem Krieg in die USA auswanderte und mit etwa 40 Jahren ihre Erinnerungen an Kindheit und Jugend in der NS-Zeit niederschrieb.
Über die Ursulinenschule 1935 vermerkte sie: "Der Orden akzeptierte jüdische Schülerinnen in einer weniger judenfeindlichen Atmosphäre als die anderen Schulen. [...] Die Schule war in Ordnung. Obwohl die meisten Mädchen katholisch waren, waren wir nicht die einzigen Nichtkatholiken, wodurch wir uns nicht ausgegrenzt fühlten." Wittkampfs deutsche Übersetzung der Herzfeldschen Erinnerungen bildet den zweiten Teil des Buches.
Alle Erfurter Schüler sollten davon erfahren, findet der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, Reinhard Schramm: "Thüringen war kein schönes Pflaster für die Juden in der NS-Zeit. Jüdische Schüler wurden sehr schlecht behandelt, auch von ihren Mitschülern." Umso wichtiger sei es, die "positiven Inseln" zu benennen. "Wir brauchen für unsere Kinder heute die positiven Beispiele als Vorbilder - gerade in einer Zeit, wo rechtes Gedankengut wieder mehr aufkommt", so Schramm. "Erfurter Schüler können durch dieses Buch erkennen, was in ihrer Stadt möglich war und wahrscheinlich wieder möglich wäre, wenn wir blinden Nationalismus nicht Mitmenschlichkeit entgegen setzen."