DOMRADIO.DE: Hessen hat gewählt. Schwarz-Grün kann wohl mit einer hauchdünnen Mehrheit von einem Sitz weiterregieren. Auch eine Große Koalition oder eine Ampel sind möglich. Viel mehr aber überrascht die Meldung, dass Angela Merkel im Dezember nicht mehr für den CDU-Parteivorsitz kandidieren will. Wie sehr überrascht Sie das?
Prof. Joachim Valentin (Direktor des Tagungshauses "Haus am Dom", Frankfurt a.M.): Das kann nach den Ereignissen der letzten Monate eigentlich kaum überraschen. Wir haben ein Sommertheater hinter uns. Wir haben ein Diesel-Theater hinter uns, das vor allem uns in Frankfurt massiv irritiert hat (Der Stadt drohen Fahrverbote, Anm.d.Red.). Wir haben ungelöste Probleme und wir haben vor allem ein Problem in der Außenkommunikation, für das die Kanzlerin in den beiden letzten Landtagswahlen eiskalt die Rechnung bekommen hat. Das hat für meine Begriffe nichts mit der immer wieder zitierten Flüchtlingspolitik zu tun, denn die ist keineswegs so gescheitert wie das rechte Kreise immer darstellen.
Da steht ja auch die katholische Kirche an Merkels Seite - übrigens auch in Hessen. Aber das Agieren in den letzten Monaten war sicher schlicht und ergreifend von hoher Unprofessionalität geprägt. Da ist sie ein Stück weit auch Opfer ihres Parteibruders Seehofer in Bayern. Also überraschend kommt das nicht.
DOMRADIO.DE: In Hessen kann Schwarz-Grün jetzt weiterregieren - wenn die beiden Parteien wollen. Welche Erfahrungen haben Sie mit der Regierungsarbeit gemacht? Welches sind aus Ihrer Sicht die zentralen Themen, die Kirche und Christen in den vergangenen Jahren in Hessen bewegt haben?
Valentin: Das ist ein weites Feld. Ich spreche jetzt einfach mal als Akademie-Direktor in Frankfurt, der aber als Vorsitzender des Rates der Religionen dort auch sehr viel mit den Themen Integration, interreligiöse Themen und religiöse Pluralität zu tun hat. Wir haben in Frankfurt 80.000 Muslime. Es haben aber auch 40 Prozent der Frankfurter Katholiken einen Migrationshintergrund. Von daher ist das ein Thema, was uns zumindest in den Metropolen - nicht nur in Hessen - umtreibt. Darauf muss die Politik eine Antwort finden. Das hat sich in Hessen etwa am Thema des islamischen Religionsunterrichts festgemacht. Der wurde hier zunächst einmal scheinbar verfassungsgemäß gegeben, steht jetzt nach der Wahl aber in Frage, weil der Erdogan-nahe türkische Verband Ditib Partner ist. Das betrifft natürlich unmittelbar die Grundfrage nach dem Religionsunterricht überhaupt.
Dann sind immer Kirchenasyl und Abschiebungen Themen. Da stehen zwischen Staat und Kirche Reibungen, aber auch gegenseitige Beratung im Mittelpunkt. Dann ist der Wohnungsbau und die Frage nach bezahlbaren Wohnungen ein Thema, das sicher die Wahl auch mitentschieden hat.
Da wird letztlich beiden alten Volksparteien SPD und CDU wenig Kompetenz zugetraut. Sie wissen, dass der Deutsche Caritasverband - und damit auch wir lokal in der Caritasarbeit, auch bei uns im Haus am Dom - mit dem Thema Wohnungen als Menschenrecht stark engagiert sind. Wir sind gerade dabei, hier ein Monitoring vorzunehmen. Wie geht Kirche mit ihren Immobilien um? Aber wir fragen auch sehr kritisch den Staat: Was tut ihr? Das werden sicher die Themen sein, über die man mit einer künftigen hessischen Regierung reden muss.
DOMRADIO.DE: Im Wahlkampf hatte die AfD mit antiislamischen Ressentiments vermehrt um Christen geworben. Ist diese Strategie aufgegangen?
Valentin: Es gab zunächst mal von meinem Kollegen, dem Islam-Beauftragten des Bistums Limburg, einen deutlichen Text, in dem er ausdrücklich mit guten Argumenten gegen eine Instrumentalisierung des Limburger Doms für die AfD auf Wahlplakaten geschrieben und sich auch gegen die Islamophobie der AfD gewendet hat. Da hat er sicher das ganze Bistum Limburg hinter sich.
Natürlich gibt es auch Christen, die die AfD wählen, die sie auch aus Angst vor dem Islam wählen. Aber es gibt genauso auch andere Umfragen, die die Präsenz der Christen in der AfD als deutlich unterdurchschnittlich wahrnimmt. Und das wäre das, woran ich mich jetzt hier auch mal halten würde. Ich glaube, das klare Wahlergebnis, das die AfD als Minderheitspartei dastehen lässt, kann man auch auf die Christinnen und Christen in Hessen übertragen.
DOMRADIO.DE: Unbestritten dürfte auch sein, dass das Wahlergebnis eine Botschaft Richtung Berlin ist. Viele Bürger sind unzufrieden wegen der Streitereien der vergangenen Monate. Ist die Politik noch verantwortungsvoll mit ihrer Aufgabe umgegangen?
Valentin: Ich kann für Hessen sagen, dass alle demokratischen Parteien verantwortungsvoll mit ihren Aufgaben umgegangen sind. Tarek Al-Wazir (Grüner Vize-Ministerpräsident, Anm.d.Red.) hat als Verkehrsminister genau die richtigen Weichen gestellt. Volker Bouffier (CDU) ist ein Landesvater, der das Land insgesamt gut in der Hand hat. Und ich glaube auch, dass das eine Vielzahl von Wählern so sieht.
Interessant ist, glaube ich, dass wir es mit einer Erosion von Wählerschichten zu tun haben. Es gibt das Verschwinden der Arbeiterschaft, die das klassische Wählerklientel der SPD dargestellt hat. Aber es gibt auch weniger kirchengebundene Menschen, die traditionell CDU gewählt haben. Wir dürfen nicht vergessen, dass die letzten Jahre oder Monate auch in Hessen von kirchlichen Skandalen geprägt waren. Da werden wir natürlich von der Politik auch kritisch angefragt, ich nenne nur den Namen Wucherpfennig.
Also an der Stelle haben wir es mit einer Erosion von Wählerschichten zu tun, die nur bedingt mit Regierungsentscheidungen zu tun haben, sondern vielmehr soziologisch erklärbar sind. Wir werden es mit 20-Prozent-Parteien zu tun haben. Das sehen wir in Hessen konkret. Viele sagen, Hessen war immer schon das Labor der Bundespolitik. Das kann man für diese Wahl auch wieder bestätigen.
Das heißt, wir werden es früher oder später flächendeckend mit Dreier-Koalitionen zu tun haben. Ich sehe an der Stelle noch keine grundsätzliche Krise der Demokratie. Ich glaube, dass ist eine Transformation von Demokratie. Und es war vielleicht wirklich notwendig dass die großen Parteien einen Weckruf bekommen haben. Inzwischen haben sie den Schuss, glaube ich, gehört. Das zeigt sich unter anderem an der Entscheidung der Kanzlerin, nicht wieder für den CDU-Parteivorsitz zu kandidieren.
Das Interview führte Katharina Geiger.