DOMRADIO.DE: Welche Kompetenz haben das Lehramt und der Vatikan? Und welche Kompetenz hat die Wissenschaft? Sie haben sich schon vor ein paar Jahren dazu geäußert und haben gesagt, ein Lehramt der Wissenschaft kann es nicht geben. Können die Bischöfe, der Vatikan und das Lehramt denn nicht auch etwas von der Wissenschaft lernen?
Gerhard Ludwig Kardinal Müller (Früherer Präfekt der Römischen Glaubenskongregation): Hier kommt es auf die Begriffe an. Das Lehramt des Papstes und der Bischöfe bezieht sich darauf, dass ihnen von Christus die Kompetenz zugesprochen worden ist, auch in Fragen der Glaubensauslegung zu urteilen. Die Lehre in der Wissenschaft ist das Ergebnis einer Forschungstätigkeit aufgrund des menschlichen Verstandes, der sich auch irren kann.
Im Idealfall ist es eigentlich so, dass die Lehre des Glaubens auch eine gründliche wissenschaftliche Ausbildung beinhaltet und sich hier nicht zwei Körperschaften völlig unverbunden gegenüberstehen.
Insofern muss gesagt werden, dass hier nicht "a priori" ein Konflikt geschaffen werden soll. Stattdessen geht es hier nur um eine Machtfrage, in der man die Wissenschaft zu einer völligen Autonomie stilisiert.
Die Mathematik hängt von der objektiven Geltung der Zahlen ab. Die Physik hängt von der objektiven Geltung der Gegebenheiten in der Natur ab. Die Theologie als übernatürliche Glaubenswissenschaft hängt von den Prinzipien der Erkenntnis ab, die uns Menschen in der Offenbarung Gottes und im Heiligen Geist mitgeteilt sind.
Und deshalb ist diese Gegenübersetzung von Glauben und Wissen, von kirchlichem Lehramt und der Autorität der Wissenschaft ein künstlicher Gegensatz.
DOMRADIO.DE: Wenn Sie es mit Mathematik oder Physik vergleichen. Der Unterschied ist, dass dort Naturgesetze herrschen, die feststehen, während im Lehramt auch Menschen sitzen. Der Vergleich hinkt doch ein bisschen, oder?
Müller: Die Naturwissenschaftler sind auch Menschen, die mit ihrem menschlichen Verstand an die Realitäten herangehen. Aber wir sind ja im Glauben davon überzeugt, dass die Inhalte des Glaubens nicht die Produkte unserer Gedanken sind, unsere Meinungen, unsere Machtansprüche, sondern, dass die Inhalte des Glaubens uns Menschen durch die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus gegeben sind.
Die Heilige Schrift ist der Anhaltspunkt für die Lebensformen der Kirche in der Liturgie, aber auch für die bisherigen Entscheidungen der kirchlichen Konzile und der päpstlichen Lehrentscheidungen. Deshalb kann man nicht sagen, dass auf der einen Seite Menschen über irgendetwas befinden und auf der anderen Seite die objektiven Naturgesetze evident und einleuchtend sind. Die müssen erst durch die rationale Analyse und die Erfahrung gefunden und entdeckt werden.
DOMRADIO.DE: Die Kirche hat sich immer wieder mit Aussagen von Theologen schwergetan, diese kritisiert und dann auch wieder gelobt – nehmen wir als Beispiel den französischen Theologen Henri de Lubac. Dem wurde zeitweise die Lehrerlaubnis entzogen, dann nahm er als Konzilstheologe am II. Vatikanischen Konzil teil. Dieser Fall weist doch darauf hin, dass sich die Lehre auch irren kann.
Sollte nicht der akademisch-wissenschaftlichen Theologie von Rom aus etwas mehr Freiheit eingeräumt werden?
Müller: Das Lehramt in der definitiven Auslegung der Offenbarung kann nicht irren. Es gehört zum katholischen Glauben dazu. Man wird kein erklärtes Dogma der Kirche finden, das im Widerspruch zur Offenbarung steht. Sondern es geht hier konkret darum zu beurteilen, ob eine vorliegende theologische Theorie mit den Vorgaben des offenbarten Glaubens übereinstimmt.
Deshalb ist es möglich, dass aufgrund von Missverständnissen in der theologischen Theorie disziplinäre Maßnahmen ergriffen wurden, die sich aber dann vielleicht später positiv geklärt haben.
Beim Konzil von Trient ist auch nicht definitiv entschieden worden, was Luther eigentlich gemeint hat. Vielleicht hat er es anders gemeint. Aber man hat sich auf die Aussagen bezogen, die gemacht worden sind. Zum Beispiel zur Zahl der Sakramente. Luther oder die anderen sagen: Es gibt zwei oder drei Sakramente. Aber die katholische Kirche, sagt: Nein, unter dem Sakramentenbegriff der katholischen Kirche gibt es eben sieben Sakramente.
DOMRADIO.DE: Das heißt, die Kirche entscheidet?
Müller: Es ist die Autorität der Kirche, die solche Entscheidungen zu treffen hat und nicht ein einzelner Theologe. Auch, wenn er eine große öffentliche Wirkung hat.
Und wenn eine Aussage getroffen wird: Die Kirche soll ihre Position zur Homosexualität in der Richtung ändern, dass ein sexuelles Verhältnis von zwei Männern dasselbe ist wie das Verhältnis von Mann und Frau, dann ist einfach von vornherein diese Position als falsch anzusehen.
Die Kirche irrt sich nicht darin, sondern der einzelne Theologe muss seine persönliche Meinung hintanstellen und sich zuerst einmal auf den Boden des katholischen Glaubens stellen. Er kann auch nicht selektiv sagen: Ich glaube an das Taufsakrament. Aber ich glaube als katholischer Theologe nicht an das Firm-Sakrament. Wir können hier das Rad der Dogmengeschichte nicht zurückdrehen. So ist es auch bei der Homosexualität.
Das können wir auch nochmal problematisieren, ob der Begriff überhaupt sinnvoll ist, weil es nur eine männliche oder eine weibliche Sexualität gibt und nicht ein drittes Geschlecht.
Jedenfalls an dieser Grundposition der Kirche, die in der Offenbarung selbst verankert ist - das ist ja die einzige Orientierung, die wir haben können - gibt es eine Ehe, eine Lebensgemeinschaft, geistig, seelisch, leiblich mit der Offenheit auf das Kind, sowohl der natürlichen Erfahrung nach, wie auch der Vorgabe der Offenbarung nach, eben nur zwischen einem Mann und einer Frau.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.
Den ersten Teil des Interviews finden Sie hier.