Erstes Treffen von Menschen mit Armutserfahrung in NRW

"Es fehlt politischer Feuereifer"

Der Kölner Diözesancaritasdirektor Frank Johannes Hensel über Armut in Deutschland und mangelnden politischen Willen, an Ungleichheit und Chancenlosigkeit für bestimmte Bevölkerungsgruppen etwas zu ändern.

 (DR)

DOMRADIO.DE: In NRW findet das erste Treffen von Menschen mit Armutserfahrung statt: Warum nehmen Sie daran teil?

Dr. Frank Johannes Hensel (Diözesancaritasdirektor im Erzbistum Köln): Weil ich dazulernen will. Ich erfahre von den Betroffenen, was sich ändern muss, damit es mehr Teilhabe gibt, und das sind nicht nur finanzielle Fragen. Es geht auch um Umgang, um Fragen des Zugangs, um den täglichen Ärger über Formulare, darum, wie ich auf dem Amt behandelt werde oder ob man mich nur als Bittsteller betrachtet. Bekomme ich eine Sach- oder eine Geldleistung? Und das lernt man in dieser Runde.

DOMRADIO.DE: Sie waren lange Sprecher der Nationalen Armutskonferenz. Wie hat das ihren Blick auf Armut in Deutschland verändert?

Hensel: Vor allem dahingehend, dass die Statistik der Arbeitslosenzahlen nur bedingt Auskunft darüber gibt, wie es eigentlich um diese Menschen bestellt ist. Zum Beispiel die Langzeitarbeitslosen: Es gibt in Deutschland eine dauerhaft abgehängte Gruppe, die von selbst aus dieser Situation nicht mehr rauskommt. Wir wissen, dass man an diese Menschen nach einigen Jahren nicht mehr über irgendeine Maßnahme herankommt. Da braucht es mehr, dauerhafte Unterstützung. Das habe ich gelernt.

Und es gibt Gruppen, die nicht viel Glück im Leben hatten. Beispielsweise Alleinerziehende, denen das Wasser bis zum Hals steht, die ihre Kinder gerade gut versorgt bekommen, aber die letztlich in Armutsverhältnissen leben. Das sind Menschen, die die vielen existenzunterstützenden Angebote nutzen, die Tafeln,  Suppenküchen und Kleiderkammern zum Beispiel.

DOMRADIO.DE: Akzeptieren wir in Deutschland dieses Phänomen achselzuckend?

Hensel: Ich glaube, das Problem ist nicht gewollt, aber letztlich hingenommen: Es gibt eine gewisse Akzeptanz dafür, dass es 20 Prozent eben nicht schaffen. 20 Prozent der Kinder leben in Armutsverhältnissen und bleiben es wohl auch. Es gibt kein echtes Aufbäumen dagegen, keinen Politikansatz, der sagt: "In unserer Legislaturperiode ändern wir das!"

Diese Menschen haben keine besondere Lobby. Wir  Wohlfahrtsverbände und die wissenschaftlichen Institute weisen zwar immer wieder darauf hin. Aber ich glaube, es gibt so eine "Fünftel-Philosophie”, nach dem Motto: "Für alle kann man ja nicht, 80 Prozent ist auch schon gut."

DOMRADIO.DE: Ist das nicht ziemlich resignativ?

Hensel: Ich glaube gar nicht, dass das Gleichgültigkeit ist, sondern eher dass an dieser Stelle der Antrieb fehlt, der Wille zu sagen: "Ich will für diese Gruppe etwas herausholen!" Was fehlt, ist der politische Feuereifer.

Es gibt keinen, der gerne Armut sieht oder es dabei belassen möchte. Aber wir haben die Experten hier, diese von Armut betroffenen Menschen, die sagen, was ihnen helfen würde, was sich ändern müsste. Ihnen müssen wir zuhören. Darum laden wir sie ein und machen mit ihnen zusammen Workshops und Tagungen.

DOMRADIO.DE: Sie sagen, dass Sie auf politischer Ebene kein rechtes Bemühen erkennen können, an dieser Situation nachhaltig etwas zu ändern. Was ist Ihre Botschaft Richtung Berlin?

Hensel: Dass sich Politik daran messen lassen sollte, was sie für das untere Fünftel tut. Und was man für die Kinder tut, damit sie die gleichen Chancen haben, wie Kinder aus besser gestellten Familien. Diese Chancengleichheit gibt es nämlich im Moment nicht. Es gibt wirklich Teilhabedefizite in unserem Land, die sind hinlänglich belegt: Man hat es einfach schwer, aus diesem Loch herauszukommen und das hat überhaupt nichts mit Intellekt oder Fleiß zu tun, sondern ist eine Frage der Chancengerechtigkeit  in unserem Land.

DOMRADIO.DE: Gerät die Thematik immer ein bisschen ins Hintertreffen, weil sie von aktuellen, scheinbar drängenderen Fragen überlagert wird?

Hensel: Ich glaube, das hat etwas mit Mehrheitsbezogenheit zu tun: Als Politiker steigt meine Beliebtheit doch eigentlich eher, wenn ich etwas für die wählende Gruppe herausgeholt habe. Wenn ich etwas für eine Gruppe tue, die sich ohnehin schon abgehängt fühlt und oft auch gar nicht mehr zur Wahl geht, dann ist natürlich auch die Motivation geringer. Ich unterstelle niemandem, dass er dieses Kalkül bewusst eingeht. Aber die Annahme, dass jeder mitgerissen wird, wenn es gesamtgesellschaftlich bergauf geht, die stimmt eben nicht. Es gibt dauerhaft Abgehängte und die müssten wir besser erreichen. 

Das Interview führte Ina Rottscheidt.


Dr. Frank Johannes Hensel / © Caritas, Erzbistum Köln
Dr. Frank Johannes Hensel / © Caritas, Erzbistum Köln

Betroffene im Gespräch / © Ina Rottscheidt (DR)
Betroffene im Gespräch / © Ina Rottscheidt ( DR )
Quelle:
DR