domradio.de: Heute reisen Sie nach Deutschland zurück, was haben Sie in Sizilien erlebt, was haben Sie gesehen?
Stefan Heße (Hamburger Erzbischof und Flüchtlingsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz): Ich habe von den Rettungsaktionen wenig mitbekommen. Das liegt daran, dass durch die Politik zwischen Italien und Libyen eigentlich die Rettung der Flüchtlinge doch eingestellt worden ist. Das heißt, die Retter können nicht auf das Meer raus. Die Grenzen werden nach Außen verlagert, weiter nach Libyen rein, wenn man es ganz hart beschreiben mag.
domradio.de: Wenn man derzeit wenig von den Flüchtlingen mitbekommt, wo haben Sie sich über die Lage informiert
Heße: Wir waren an den Hotspots der sizilianischen Küste, wo die Menschen aufgenommen, wo sie registriert und wo sie gesundheitlich versorgt werden. Der italienische Staat will sie möglichst schnell von der Insel weg ins Landesinnere verteilen. Die einzigen, die hier bleiben, das sind die unbegleiteten Minderjährigen.
domradio.de: Was haben die Menschen Ihnen erzählt?
Heße: Die unbegleiteten Minderjährigen haben wir gestern in einer Einrichtung des Salesianerordens besucht. Sie sind froh, dass sie überhaupt sicheren Boden unter den Füßen haben. Ich habe bei diesen jungen Menschen auch eine gewisse Traurigkeit wahrgenommen. Wir haben das nur vorsichtig ansprechen können und wir haben uns gefragt: Wie ist das mit den Traumatisierungen und dem, was sie erlebt haben? Manche haben gar keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie, wissen nichts von ihnen. Dann kann man sich vorstellen, welche Schicksale sich hinter den jugendlichen Gesichtern verbergen.
domradio.de: Auf der anderen Seite gibt es auch den Konflikt mit den Rettungsorganisationen auf dem Mittelmeer. Es gibt mehrere Organisationen, die sich zurückgezogen haben, weil ihnen unter anderem die italienische Regierung die Zusammenarbeit mit Schleusern vorgeworfen hat. Macht es das Problem nicht noch schlimmer, wenn die privaten Retter hier nicht mehr retten?
Heße: Es ist schon traurig, wenn die privaten Organisationen verschwinden und etwa in den Golf von Bengalen gehen – wie MOAS das zum Beispiel tut. Sie retten weiterhin, nur halt woanders. Nur sind sie dadurch nicht mehr hier an diesem wichtigen Punkt.
domradio.de: Welche Konsequenzen hat das?
Heße: Wahrscheinlich wird das dazu führen, dass Flüchtlinge sich dann andere Wege suchen. Wahrscheinlich werden sie über Spanien oder andere Routen gehen. Es hat sich ja gezeigt, dass sie die Routen wählen, die passierbar sind.
domradio.de: Einige osteuropäische Länder wie Ungarn oder Polen wehren sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Sie haben jetzt das Schicksal der Menschen hautnah gesehen. Können Sie für solche Regierungen und deren Abwehr-Haltung überhaupt Verständnis aufbringen?
Heße: Ich habe da kein Verständnis für, weil ich der Überzeugung bin, dass das Thema der Migration kein lokales ist, sondern ein globales. Deswegen bin ich der Auffassung, dass das auch nur im Miteinander gelöst werden kann. Das kann nicht nur eine Region machen, das kann auch nicht nur Europa hinbekommen. Das ist ein Kennzeichen unserer Zeit.
domradio.de: Was meinen Sie damit?
Heße: Ich glaube, dass eher davon auszugehen ist, dass die Migrations-Ströme größer als kleiner werden. Deswegen kann ich nur sagen, wir müssen alle unsere Köpfe zusammenstecken, um Lösungen zu finden. Wir müssen unsere Herzen zusammenstecken. Denn letztlich geht es bei den Migrations-Strömen nicht um "Fälle" und nicht um "Routen", sondern um Menschen. An denen müssen wir Interesse haben und sie herzlich aufnehmen. Natürlich müssen die Ströme kanalisiert und gut begleitet werden, aber durch Abschottung wird dieses Thema nicht zu lösen sein.
domradio.de: Sie sitzen auf gepackten Koffern, gleich geht es zurück nach Deutschland. Was nehmen Sie mit?
Heße: Ich bin dankbar für die Menschen, die ich getroffen habe. Ich habe bei vielen eine Hoffnung gespürt. Ich bin für die Helfer aus Kirche und Nichtregierungsorganisationen dankbar. Die leisten eine tolle Arbeit. Ich muss auch den Behörden ihren Respekt zollen. Das alles muss gehändelt werden. Die Leute machen es sich nicht einfach, sondern sie versuchen es so gut zu machen, wie es eben geht. Sie haben gemerkt, es geht nur im Miteinander der unterschiedlichen Organisationen und des Staates. Sonst wird das Megathema nicht umsetzbar sein.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.