SPD-Politiker fordert Kirchen auf, mehr Zusammenhalt zu schaffen

"Es fehlt das Wir"

Kann eine Gesellschaft, in der der Individualismus hochgehalten wird, trotzdem solidarisch sein? Das fragt sich der Kölner SPD-Politiker Jochen Ott. Versäumnisse sieht er hier auch bei den Kirchen, wie er im Interview betont.

Symbolbild Diversität / © Rawpixel.com (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Was hält die Welt noch zusammen? Der zunehmende Individualismus und auch Narzissmus, wie ihn Politiker wie Trump, Bolsonaro oder Putin verkörpern, ist es sicher nicht, oder?

Jochen Ott (SPD-Politiker, Autor, MdL): Nein, mit Sicherheit nicht. Das ist ja eher das Symptom einer Gesellschaft, die sich individualistisch auseinander entwickelt hat. Mich hat das sehr beschäftigt. Wie kommt es dazu, dass in großen Volkswirtschaften wie den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien auf einmal Leute für den Brexit und für Trump stimmen?

Wie kann es sein, dass in unserer Gesellschaft jetzt am Wochenende wieder beispielsweise in Düsseldorf oder in Köln Rettungskräfte sowie Polizeibeamte angegriffen werden? Wie kann es sein - das war vor der Corona Krise -, dass auf Abgeordnetenbüros geschossen wird? Wie kann es sein, dass in Köln-Porz einem Jugendlichen in den Rücken geschossen wurde?

Das alles hat mich sehr beschäftigt. Und ich möchte, dass wir nicht nur in dieser Stadt, sondern darüber hinaus darüber diskutieren, was die Welt zusammenhält.

DOMRADIO.DE: Sie schreiben in Ihrem Buch "Solidarischer Individualismus" über Gefahren und diese Entwicklungen, die das solidarische Miteinander gefährden. Welche gesellschaftlichen Entwicklungen sind das?

Ott: Ich glaube, wir haben seit Ende der 1970er Jahre eine Entwicklung, in der sich der Liberalismus auf allen Ebenen durchgesetzt hat. Zum einen marktwirtschaftlicher Liberalismus, also im Sinne des Neoliberalismus von Thatcher und Reagan. Jeder ist seines Glückes Schmied, kümmer dich um dich selbst, wenn du erfolgreich bist, kannst du dich auch durchsetzen.

Gleichzeitig gesellschaftspolitisch, auch aus den Ausflüssen der 68er dann und in den 1980er Jahren, dass jeder so leben kann und möchte, wie er das gerne will, ein Höchstmaß an Freiheit und individuellem Ausleben der eigenen Wünsche.

Das zusammengenommen hat sich sozusagen als hegemoniale Erzählung, sagt Frank Vogelsang (Dr. Frank Vogelsang ist Dipl.-Ing. und ev. Theologe sowie Direktor der Evangelischen Akademie im Rheinland, Anm. d. Red.), durchgesetzt und hat dazu geführt, dass wir vielleicht eine Radikalisierung der Individualisierung haben. Dadurch ist das "Wir" in den Hintergrund gerückt. Wenn man alle Bereiche des Lebens wirtschaftlich durchorganisiert, dann fehlt das Wir.

Und wenn es keinen Halt mehr gibt, wenn Kirche, wenn Parteien, wenn Gewerkschaften, wenn also große Gruppen quasi alle als störend und als lästig empfunden werden, dann gibt es auch da nichts mehr, was zusammenhält. Und ich glaube, deshalb müssen wir nach einem neuen Wir suchen.

DOMRADIO.DE: Welche Rollen können und müssen da denn auch die Kirchen zum Beispiel auf dem Weg zu einer solidarischen Gesellschaft spielen?

Ott: Ich glaube, das Entscheidende ist Respekt, Respekt dem anderen gegenüber und dem Andersdenkenden gegenüber. Und Respekt auch den Menschen gegenüber, die ihr Leben nach eigenen Vorstellungen leben wollen. Eine Kirche hat in der Vergangenheit Zusammenhalt geschaffen. Wenn man an ein Pfarrfest denkt, da kam die ganze Gemeinde zusammen und das war wirklich ein "Wir", weil auch Leute bei waren, die man nicht so mochte. Da waren Arme und Reiche zusammen. Da waren verschiedene Milieus an einem Ort.

Heute hat sich das so ausdifferenziert, dass schon in einer Großstadt wie Köln überall unterschiedliche Milieus wachsen. Es kommt nichts mehr zusammen. Und eigentlich hätte Kirche in dieser Zeit eine ganz wichtige Aufgabe als Volkskirche, die Menschen zusammenzuhalten. Leider hat die Kirche hier oft in der Vergangenheit eben das Individuelle ganz in den Hintergrund gerückt. Deshalb hören viele Individualisten auf Kirche auch nicht mehr, weil sie sich von Kirche nicht ernst genommen fühlen.

DOMRADIO.DE: Der Untertitel von Ihrem Buch lautet: "Wie wir die wunderbare Freiheit der Einzelnen mit der Kraft der Solidarität verbinden". Sind die Begriffe Freiheit und Solidarität ein Gegensatzpaar?

Ott: Seit der Französischen Revolution denken wir das eigentlich ja gemeinsam. Immer dann, wenn einer der Werte der Französischen Revolution übermächtig geworden ist, dann kommt es zu Problemen. Wenn man sozusagen nur auf die Solidarität setzt und die Individualität des Einzelnen nicht berücksichtigt, wird es nicht funktionieren. Aber wenn man die Freiheit sozusagen bis Ultimo zieht, dann wird es auch nicht gelingen.

Deshalb ist das Entscheidende - sowohl im Wirtschaftlichen als auch im Gesellschaftlichen -, das "Wir" wieder zusammenzuführen im Sinne eines rheinischen Kapitalismus. Auch dafür zu sorgen, dass man immer wieder Orte schafft, wo das "Wir" sich begegnet, wo Menschen unterschiedlicher Milieus sich treffen können.

Das ist mir besonders wichtig in einem positiven Zukunftsentwurf. Die Gesprächspartner haben das alle beschrieben, wie wichtig für eine Gesellschaft auch ein Zukunftsentwurf ist, wo man sagt, da wollen wir gemeinsam hin und wir wollen diese Gesellschaft zum Besseren verändern, in der jeder nach seiner Fasson selig werden kann und jeder nach seinen Möglichkeiten das Leben leben kann, was er gerne möchte.

DOMRADIO.DE: Am Ende Ihres Buches zählen Sie zehn Schritte auf dem Weg zu einer solidarischen Wir-Gesellschaft auf. Wir können sie nicht jetzt alle aufzählen. Aber was ist denn das Wichtigste? Was ist die grundlegende Voraussetzung, damit die Solidarität der Menschen, lebens- und weltprägend bleibt?

Ott: Zunächst müssen Menschen sich treffen können. Es muss immer wieder Orte geben, wo verschiedene Milieus zusammenkommen. Da ist die Schule natürlich ein ganz besonders wichtiger Ort. Es muss uns allen klar sein - das sagen alle wissenschaftlichen Studien der letzten 40 Jahre -, dass der Erfolg in der Schule eben nicht nur von einem selber abhängt, von den eigenen Leistungen, sondern auch vom Umfeld, von den Lehrern, von den Eltern, von der Familie.

Wenn Meritokratie, also die Leistungsgesellschaft, eine Zukunft haben soll, wenn es darum geht, dass man, wenn man sich anstrengt, auch was aus seinem Leben machen kann, dann muss man das eben mitdenken. Dann müssen alle die Chance haben, aufzusteigen. Da müssen alle die Chance haben, ein Leben nach ihren Möglichkeiten führen zu können.

Alle Eltern wollen, dass es ihren Kindern einmal besser geht. Und wo ist der Ort, wenn man das fördern will, wenn das nicht in der Schule ist? Kindergarten und Schule sind die Orte, wo wir den jungen Leuten unter die Arme greifen können, wo wir Kinder unterstützen können und wo wir ein neues "Wir" leben können.

Das ist mir besonders wichtig, gerade vor der enormen Herausforderung des Klimawandels. Das wird nur gelingen, wenn man die Mehrheit der Menschen mitnimmt und wenn es eine Versöhnung von Kapital, Umwelt und eben auch den sozialen Fragen gibt.

DOMRADIO.DE: Jetzt haben wir aber auch aktuell erlebt, wie solidarisch Menschen sein können. Nach der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz gab es eine unglaubliche Hilfsbereitschaft von ganz vielen Menschen. Macht das nicht Mut für die Zukunft?

Ott: Ja, es macht total viel Mut. Wir haben gesehen, wie viele Menschen sich 2015, als die Flüchtlinge zu uns gekommen sind, jetzt in der Hochwasserkatastrophe und auch bei Covid-19 zu Beginn der Pandemie, solidarisch gezeigt haben. Das zeigt, dass solidarischer Individualismus geht. Es geht darum, wie Franz Meurer (Kölner Sozialpfarrer, Anm. d. Red.) in meinem Buch ja so schön sagt, den guten Wolf zu füttern. In der Geschichte erzählt er davon, dass es immer zwei Wölfe gibt, den Guten und den Bösen.

Und die Frage ist, ob wir den guten Wolf füttern, der sagt: Ja, ich bin individuell. Ja, ich möchte mein Leben auch gerne leben. Ja, aber ich mache das nicht mit Ellbogen, setze mich gegen alle anderen durch, sondern ich versuche im Sinne eines solidarischen Individualismus mit dazu beizutragen, dass die unglaubliche Freiheit, die wir genießen und die wir ja eigentlich jetzt vor den Ereignissen in Afghanistan, gerade auch den Menschen in Afghanistan ja wünschen würden, wo wir Sorge haben, dass diese Freiheiten weggenommen werden, dass wir diese unglaublichen Freiheiten genießen können, aber gleichzeitig das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, sondern die Gesellschaft auch zusammenhalten.

Das "Wir" ist die Grundlage jeden menschlichen Lebens. Wir brauchen als Mensch den anderen. Und wer "ich" leben will, der braucht vorher auch das "Wir", was einen stark gemacht hat.

Das Interview führte Katharina Geiger.

Zur Info: Das Buch "Solidarischer Individualismus" von Jochen Ott ist im Greven Verlag ernschienen und kostet 8,00 Euro.


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Jochen Ott / © privat ( privat )
Quelle:
DR