Das Thema Missbrauch muss aus Sicht des Religionsexperten der SPD, Lars Castellucci, stärker auf die Tagesordnung. "Es betrifft nicht nur die Kirchen, sondern die ganze Gesellschaft. Wir haben es, zumal mit allem, was durch das Internet noch dazukommt, mit einem aktuellen und höchst relevanten Problem zu tun", betonte er im Interview der "Zeit"-Beilage "Christ & Welt" (Donnerstag). Nötig seien Prävention und eine harte Strafverfolgung. "Aber es läuft uns die Zeit davon, um Wunden zu heilen, die durch die unzulängliche Aufarbeitung aufgerissen sind. Was Jahrzehnte zurückliegt, fasst ja keine Staatsanwaltschaft mehr an."
Parlamentarische Begleitung der Aufarbeitung
Viele Opfer beklagten, dass sie erneut gegen die "Mauern der Organisationen" liefen und fühlten sich alleingelassen. "Das darf man nicht laufen lassen, hier besteht Handlungsbedarf, und zwar auch politischer", forderte Castellucci. Schon jetzt gebe es den Beauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, sowie eine Aufarbeitungskommission. "Aber ich plädiere für eine engere parlamentarische Begleitung." Beide Institutionen müssten gesetzlich verankert werden. Den Menschen müsse deutlich gemacht werden, "dass der Staat kontinuierlich hinguckt".
Castellucci kritisierte die Aufarbeitung von Missbrauch innerhalb der Kirchen: "Mit jedem blöden Gutachten missglückt die Aufarbeitung mehr. Eins wird veröffentlicht, eins zurückgezogen und ein drittes nur geschwärzt veröffentlicht. Diesen Vertrauensverlust muss man dringend unterbrechen." Bei der Aufarbeitung bestehe ein Ungleichgewicht, weswegen Betroffene "zunächst selbst einen sicheren Stand erreichen" müssten. Dazu müsse die Selbstorganisation der Betroffenen unterstützt werden, möglicherweise auch finanziell.
Scham und schlechtes Management
Die Kirchen könnten die Aufarbeitung nicht allein übernehmen. "Wir haben genau dafür einen Rechtsstaat, weil nicht jeder damit alleingelassen werden kann, sich selbst aufzuklären und mit Konsequenzen zu belegen", so Castellucci. Insgesamt sehe er in den Kirchen durchaus die Bereitschaft, etwas zu tun - aber auch Scham und schlechtes Management. Es gebe zugleich die Gefahr, dass der Schutz der Organisation größer geschrieben werde als der Schutz von Menschen. Der Experte sagte: "Unter dem Strich: Es reicht bei Weitem nicht."
Er plädierte dafür, dass die Aufarbeitungskommission die konkrete Aufarbeitung von Institutionen wie den Kirchen begutachten solle. "Sie würde das Testat ausstellen - oder es eben verweigern." Insgesamt müsse es gelingen, die bestehenden Strukturen für die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt stark zu machen. Auch brauche es eine Berichtspflicht an den Bundestag mit Debatte und Arbeit in den Ausschüssen. Dass Aufarbeitung verschleppt werde, könne durch solche Verbindlichkeiten verhindert werden.
"Wenn die Kirchen das Ruder nicht herumgedreht bekommen, schaffen sie sich noch selbst ab", gab Castellucci zu bedenken. Es gehe in erster Linie um die Betroffenen. Niemand solle sich ausgeliefert oder allein fühlen und stattdessen Solidarität erfahren.