DOMRADIO.DE: Wenn man in Richtung Kirche und Religion bei den neuen SPD-Chefs schaut, so sind es auf den ersten Blick nicht die "glühenden" Christen: Norbert Walter-Borjans ist vor über 30 Jahren aus der katholischen Kirche ausgetreten. Saskia Esken ist für die Abschaffung der Staatsleistungen an die Kirchen. Ihre Vorgängerin Andrea Nahles war da ganz anders, nämlich überzeugt katholisch. Sie, Herr Castellucci, haben sich als Kirchenbeauftragter selbst vor einer Weile in einem Interview als "Hardcore-Protestanten" bezeichnet. Da wird es wahrscheinlich ein bisschen ungemütlicher mit den neuen Chefs für Sie, oder?
Lars Castellucci (Kirchenbeauftragter der SPD-Bundestagsfraktion): Na ja, ich glaube, die großen Aufgaben, die vor uns liegen, liegen woanders. Wir müssen schauen, wie es in dem Land weitergeht, dass es eine wirtschaftliche Stabilität gibt. Dass die Menschen auch im Zuge von technologischen Veränderungen wie der Digitalisierung gute Arbeitsplätze, Ausbildungsplätze bekommen und so weiter. Das wird kein riesiger Streitpunkt sein. Die Ablösung der Staatsleistungen muss man nicht für vordringlich halten, ist aber Verfassungsauftrag. Da bewegt sich Frau Esken auf dem Boden des Grundgesetzes.
DOMRADIO.DE: Wie sieht es mit den anderen Punkten aus, die Ihnen als Beauftragter für Religion und Kirche wichtig sind? Wie steht es mit den neuen Chefs und Ihrer Partei?
Castellucci: Ich glaube, das können wir alle noch gar nicht so richtig einschätzen. Wir sind alle gespannt auf diesen Parteitag. Wir hatten ja 23 Regionalkonferenzen, wo alle immer nur etwa eine Minute hatten, um ihre Standpunkte zu erläutern. Auf diesem Parteitag wird ausführlich Zeit zur Debatte sein.
Im Zuge von Religion geht es mir in allererster Linie darum, wie wir das Miteinander in Deutschland gut gestalten können. Und da tragen Religionen und Kirchen natürlich eine Menge zu bei. Viele Menschen sind irritiert über Dinge, die fremd auf sie wirken. Da müssen wir im Land klären, was die Dinge sind, die wir tragen müssen oder die dazugehören, weil sie unter die Religionsfreiheit fallen und was Bereiche sind, die nicht gehen und wo dann der Staat auch konsequent handeln muss.
Das ist ein großer Diskussionsprozess, ein großer Aushandlungsprozess, den wir in den nächsten Jahren miteinander stemmen müssen. Und da sind unsere neuen Vorsitzenden, wenn sie denn gewählt sind und auch der gesamte Parteivorstand, sicherlich auch voll mit dabei. Denn das gute Zusammenleben, der Zusammenhalt ist ja das, worauf es der SPD am Ende ankommt.
DOMRADIO.DE: Das klingt relativ theoretisch. Was meinen Sie genau mit den Sachen, die noch gehen und denen, die nicht mehr ertragbar sind, die geregelt werden müssen?
Castellucci: Na ja, wir leben in einer Zeit, in der Religion in der Gesellschaft zurückgeht. Wenn man sich mal die Mitgliederzahlen der Kirchen oder auch Kirchenbesuche und so weiter anschaut, wurde in den letzten Jahren eher von einer säkular werdenden Gesellschaft gesprochen. Gleichzeitig reden wir so viel über Religion wie nie zuvor, was hauptsächlich mit dem Islam zusammenhängt und dass wir uns nach und nach daran gewöhnen, dass Muslime ganz normale Mitbürgerinnen und Mitbürger in diesem Land geworden sind.
Aber natürlich ist auf der Welt so viel los, Terrorismus und Islamismus. Wir haben extreme Formen, die wir auch auf den eigenen Straßen sehen, Bilder, die wir so nicht gewohnt sind. Und da müssen wir klären: Wo darf beispielsweise ein Kopftuch in diesem Land getragen werden und wo nicht? Darf eine Lehrerin ein Kopftuch anziehen? Dürfen weiterhin Kreuze in den Schulen hängen? Wie geht es mit den Feiertagen weiter, wenn die Bindungen an die Kirchen schwächer werden? Das ist etwas, was wir klären müssen.
Ich glaube nicht, dass das morgen alles zu entscheiden ist. Aber wir sind gut beraten, vernünftig über diese Fragen miteinander zu reden, damit sich auch alle Menschen in diesem Land wohlfühlen und es als ihr Land begreifen können.
DOMRADIO.DE: Wie sieht es denn grundsätzlich zurzeit mit dem Verhältnis der SPD zu den Kirchen aus?
Castellucci: Es ist ein wechselvolles Verhältnis. Zunächst waren die Kirchen - insbesondere die protestantische Kirche - Staatskirche und damit mitverantwortlich, dass Sozialdemokraten in diesem Land verfolgt und im 19. Jahrhundert verboten wurden. Gleichzeitig gab es Menschen, die als religiöse Sozialisten unsere Reihen verstärkt haben und gesagt haben: Die Botschaft der Nächstenliebe und die Botschaft der Solidarität geht gut zusammen.
Diese Breite macht die Partei auch heute noch aus. Wenn ich an der Basis in den Ortsvereinen unterwegs bin, treffe ich viele Menschen, die in Pfarrgemeinderäten und Kirchengemeinderäten aktiv sind, die überhaupt in der Gesellschaft engagiert sind. Ich glaube, das Verhältnis ist gut. Wir machen regelmäßig Empfänge bei Kirchentagen und bei Katholikentagen und sind dort präsent. Wir haben auch regelmäßig Spitzengespräche. Das werden sicherlich auch die neuen Vorsitzenden fortführen, so wie es unter Andrea Nahles und Sigmar Gabriel davor üblich war.
DOMRADIO.DE: Dass das Verhältnis gut ist, merkt man auch daran, dass der Parteitag in Berlin am Freitag mit einem ökumenischen Gottesdienst startet. Gefeiert wird er von Berlins katholischem Erzbischof Heiner Koch. Nach ihrer Erfahrung: Wird der Gottesdienst von den Parteimitgliedern gerne angenommen oder gehen da nur zwei, drei Leute hin?
Castellucci: Das Problem ist, dass der Gottesdienst früh um acht Uhr stattfindet und viele auch am Freitag noch anreisen - je nachdem, wo sie herkommen. Unter solchen organisatorischen Bedingungen leidet der Gottesdienst. Wir haben natürlich darüber gesprochen, ob man das von der Uhrzeit auch irgendwo anders hinschieben kann. Ich selber bin sehr genervt, dass der Parteitag am Sonntagvormittag zu einer sehr unchristlichen Uhrzeit losgeht, sodass keiner eine Chance hat, irgendwo in die Kirche zu gehen oder den Sonntag für sich zu feiern.
Mir persönlich und auch vielen Delegierten sowie den Mitstreiterinnen und Mitstreitern im Arbeitskreis "Christen in der SPD", der ja auch bundesweit organisiert ist, ist es wichtig, dass wir dieses Angebot der Kirchen haben. Ich finde, der ökumenische Gottesdienst ist auch ein guter Einstieg der Besinnung. Und ein bisschen Besinnung tut uns offen gestanden nach diesen heftigen Monaten, die hinter uns liegen, auch gut, sodass wir dann auch wieder mit der Zuversicht, die ja auch zum Advent gehört, am Ende dieses Parteitags nach vorne blicken und gemeinsam unsere Ziele verfolgen können.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.