Zehn Jahre nach Publikwerden des Missbrauchsskandals

"Es wird heute viel genauer hingeguckt"

Vor exakt zehn Jahren wurden die ersten Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg öffentlich. Damals kam ein Stein ins Rollen, immer mehr Opfer brachen ihr Schweigen, immer mehr Kirchenobere sahen sich zum Handeln gezwungen.

Symbolbild Kirche in schwierigen Zeiten / © rui vale sousa (shutterstock)
Symbolbild Kirche in schwierigen Zeiten / © rui vale sousa ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Sollte die katholische Kirche Pater Mertes dafür dankbar sein, was er da vor zehn Jahren publik gemacht und somit ins Rollen gebracht hat?

Oliver Vogt (Leiter des Instituts für Prävention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt): Ja, sollte sie, weil durch den Schritt, den Pater Mertes damals gegangen ist, tatsächlich in der Kirche etwas in Bewegung gekommen ist, was heute dazu beiträgt, dass viele Dinge, die in der Vergangenheit in der Kirche geschehen konnten, heute so nicht mehr vorkommen würden. Das ist nur möglich, weil damals sehr klar benannt wurde, dass es solche Fälle gegeben hat und dies bei den Verantwortlichen zu einem Umdenken geführt hat.

DOMRADIO.DE: Wenn Sie sich zehn Jahre zurückerinnern an die Canisius-Fälle: Haben Sie damals das schon geahnt, was es nach sich ziehen würde?

Vogt: Nein. Als die Fälle bekannt wurden, bin auch ich in meiner Funktion damals noch in der Jugendseelsorge im Erzbistum Köln davon ausgegangen, dass es sich um Einzelfälle handelt. Es wurde sehr schnell klar, dass das nicht der Fall ist. Aber die Dimension, die wir heute kennen und die sich dann ergeben hat – das war mir damals nicht klar.

DOMRADIO.DE: Im Herbst 2018 haben die deutschen Bischöfe die von ihr beauftragte Missbrauchsstudie vorgestellt – mit erschreckenden Zahlen. War das nochmal ein Wendepunkt?

Vogt: Ja, ich denke, das war nochmal ein Wendepunkt, weil dort noch einmal komprimiert und ganz deutlich zusammengefasst wurde, über welche Dimensionen wir bei diesem Thema reden. Es wurde klar, wo die Fehler in der Vergangenheit gelegen haben und welche systemischen Strukturen dafür verantwortlich waren, dass es zu diesen schrecklichen Taten kommen konnte und dass letztendlich die Betroffenen innerhalb der katholischen Kirche viel zu wenig im Blick gewesen sind.

DOMRADIO.DE: Heute kümmert sich die Kirche um Aufklärungsarbeit und Aufarbeitung. Wo stehen wir jetzt, zehn Jahre nach Aufdeckung dieser Krise?

Vogt: Die Kirche steht im Bereich der Prävention aus meiner Sicht an einer sehr guten Stelle. Es sind umfänglich in allen kirchlichen Einrichtungen Präventionsmaßnahmen eingeführt worden. Mitarbeiterschulungen werden regelmäßig durchgeführt, sodass ich denke, der Bereich Prävention hat sich in diesen zehn Jahren sehr gut entwickelt. Ich denke, der nächste Schritt, der jetzt ansteht, ist tatsächlich eine Aufarbeitung. Die Kirche muss sich mit jedem Einzelfall und insbesondere auch mit Verantwortlichkeiten auseinandersetzen, die dazu beigetragen haben, dass solche Fälle geschehen konnten. Da stehen wir noch ziemlich am Anfang.

DOMRADIO.DE: Dass es Leute wie Sie heute gibt, ist auch eine Lehre aus dem Missbrauchsskandal. Ist die Problematik denn mittlerweile wirklich im Bewusstsein der Kirchenverantwortlichen angekommen?

Vogt: Nach meiner Wahrnehmung, ja. Ich glaube, es geht immer noch etwas zu langsam, weil es nicht "die Kirche" gibt, sondern es gibt jede einzelne Diözese. Es gibt die einzelnen Einrichtungen, und alle müssen sich über dieses Thema immer wieder neu verständigen. Das führt zu Zeitverlust, und das führt zu Reibungsverlusten. Das kann man sicherlich noch deutlich optimieren. Aber im Bewusstsein ist es angekommen. Die Frage ist, wie konsequent jetzt mit den weiter anstehenden Schritten umgegangen wird.

DOMRADIO.DE: Heute haben die Bischöfe auf einer Sitzung in Würzburg um mehr Zeit für die Aufarbeitung gebeten. Sie haben direkt mit den Opfern zu tun. Spüren Sie da viel Unmut darüber, dass die kirchlichen Mühlen so langsam mahlen?

Vogt: Ja, das ist etwas, was sich in vielen Gesprächen mit Betroffenen deutlich zeigt, dass einfach ein Unverständnis darüber da ist, dass die Wege so lange dauern. Viele dieser Menschen warten seit ganz langer Zeit darauf, dass ihnen vonseiten der Kirche Gerechtigkeit widerfährt. Und sie erfahren immer wieder, dass Prozesse sich einfach in die Länge ziehen.

DOMRADIO.DE: Ist denn das Thema Entschädigung in Ihrer Wahrnehmung für die Opfer das Wichtigste?

Vogt: Das Thema Entschädigung ist sicherlich ein wichtiges Thema. Ich tue mich schwer damit, zu sagen, es ist das Wichtigste. Das ist aber auch sehr individuell. Es gibt tatsächlich Betroffene, für die diese finanziellen Leistungen ein ganz wesentlicher Bestandteil sind. Für andere Betroffene – und auch da habe ich sehr viele Gespräche geführt – ist eigentlich eher die persönliche Auseinandersetzung des Täters, der Institution mit dem eigenen Missbrauch das, was im Vordergrund steht. Dennoch ist natürlich ein Missbrauch damit verbunden, dass auch für die Betroffenen über Jahre erhebliche Kosten entstehen. Unter anderem beispielsweise Therapiekosten, und diese Kosten müssen natürlich angemessen entschädigt werden.

DOMRADIO.DE: Es gibt eine Zahl, die im Raum schwebt. Demnach könnten bis zu 300.000 Euro pro Geschädigtem gezahlt werden. Ist das Ihrer Ansicht nach angemessen?

Vogt: Ich tue mich schwer, jetzt Zahlen zu diskutieren, solange das Verfahren noch nicht klar ist. Ich glaube, es gibt eine wesentliche Aussage, die ich auch von Betroffenen gehört habe: Es ist mit keinem Geld der Welt gutzumachen, was mir geschehen ist.

Es wird Menschen geben, die sagen: "Ja, diese 300.000 sind angemessen und die helfen mir". Es wird Menschen geben, die sagen: "Nein, das ist immer noch viel zu wenig für das, was ich erlebt habe. Ich bin mein Leben lang geschädigt durch das, was die Mitarbeiter der Kirche mir angetan haben. Da hilft mir kein Geld der Welt".

Von daher finde ich es sehr schwierig, diese Frage auf eine Summe festzulegen. Ich glaube, es ist viel wichtiger, dass man deutlich sagt: Ja, wir wollen Entschädigung. Da muss mehr passieren als in der Vergangenheit. Es muss klare Verfahren geben, die möglichst wenig belastend für Betroffene angelegt sind. Welche Summe am Ende dabei rauskommt, wird man durch die Diskussionen dann sehen.

DOMRADIO.DE: Aber wenn es 300.000 pro Kopf wären, dann würden ganze Orden wahrscheinlich pleite gehen, oder?

Vogt: Natürlich stellt eine solche Summe, wenn sie denn dann kommen würde, Orden, Diözesen, Einrichtungen vor erhebliche Probleme bis hin zum finanziellen Ruin. Deswegen, denke ich, muss man sehr deutlich, wenn es in eine solche Größenordnung gehen sollte, über eine Fondslösung nachdenken, die das dann abfedert. Aus meiner Sicht ist es auch ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt, dass Täter, die heute noch leben, sich finanziell an einem solchen Fonds beteiligen. Das ist einfach heute noch nicht der Fall.

DOMRADIO.DE: Was ist mit den Bischöfen, die auch mit dazu beigetragen haben, dass es möglich war oder dass Täter gedeckt wurden?

Vogt: Das ist sicherlich eine Frage, die auch in der Öffentlichkeit schon diskutiert wird, also ob Bischöfe einen Teil ihres Gehaltes zur Verfügung stellen sollten, um einen solchen Fonds mit zu bestücken. Ich möchte ein bisschen davor warnen, zu sagen: Alle Bischöfe haben vertuscht. Das ist etwas zu einfach. Aber natürlich haben sie eine Verantwortung für die Institution, der sie vorstehen, in der solche Dinge möglich waren. Aus diesem Grund ist das durchaus eine Überlegung, die ich für sinnvoll halte und die man in den weiteren Planungen mit berücksichtigen sollte.

DOMRADIO.DE: Glauben Sie jetzt, dass es Fälle, wie sie vor zehn Jahren herausgekommen sind, die sich teilweise in den 1970er, 1980er Jahren zugetragen haben, heute wirklich nicht mehr möglich werden?

Vogt: Wer sich heute hinstellt und sagt, solche Fälle sind nicht mehr möglich, der hat tatsächlich die Realität nicht verstanden. Sexuellen Missbrauch hat es immer gegeben und wird es auch immer geben. Heute ist es aus meiner festen Überzeugung nicht mehr möglich, dass diese Fälle so lange unentdeckt bleiben und dass so damit umgegangen wird, wie es in der Vergangenheit geschehen ist.

Es wird heute viel genauer hingeguckt, sodass die Chance viel größer ist, dass das bereits in der Anbahnungsphase einer solchen Tat schon erkannt wird. Da kann man schneller eingreifen. Aber dass man mit allen Maßnahmen, die jetzt ergriffen werden, sexuellen Missbrauch komplett verhindern kann, das ist, glaube ich, ein Wunschdenken – was ich mir auch sehr wünschen würde. Aber das entspricht einfach nicht der Realität.

Das Interview führte Tobias Fricke.


Oliver Vogt, Leiter des Instituts für Prävention und Aufarbeitung (IPA) von sexualisierter Gewalt / © Julia Steinbrecht (KNA)
Oliver Vogt, Leiter des Instituts für Prävention und Aufarbeitung (IPA) von sexualisierter Gewalt / © Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
DR